Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie oft er mit den starken Fingen seiner kräftigen Hände den Fels um Halt gebeten hatte. Drei Stunden waren jetzt vergangen, dass er den Entschluss gefasst hatte, die Nordroute zu nehmen. Es war ein idealer Tag. Kein Wind, eine leichte Sonne und etwas mehr als 23° Celsius. Er hatte gut geschlafen. Traumlos und tief. Seine Ausrüstung mit dem Seil und den vielen verschiedenen Haken und Ösen lag bereit. Doch er wollte sie heute nicht nehmen. Nicht heute. Der Tag war zu schön. Nichts sollte ihn belasten bei seinem Aufstieg. Es war nicht ungewöhnlich, dass er auf alles verzichtete, was ihn im Fels sichern würde. Schon oft war er bekannte Routen so aufgestiegen. Er kannte das unbeschreibliche Gefühl, dass ihn überkam, wenn er so einen Stieg durchkletterte. Heute wollte er es wieder erfahren.
Jetzt hing er in mehr als hundert Meter Höhe. Die Felsabsätze auf denen er hochgeklettert war, waren selten breiter als zwei Zentimeter. Vor ihm war die schwierigste Stelle, dass wusste er. Seine Füße gaben ihm einen guten Stand und er konnte genau die nächsten Schritte im Kopf durchgehen. Über ihm ein leichter Überhang. Rechts würde eine Spalte im Fels den ersten Griffen guten Halt geben. Dann musste er sich fast um neunzig Grad mit den Füßen nach oben bewegen, um dort einen kleinen Absatz zu erreichen. Sobald sie dort sicher gelandet waren, würde er den linken Arm hochreißen und einen winzigen Absatz fassen, um seiner dann fast waagrechten Position Halt zu geben. Dann kam der entscheidende Griff. Seine rechte Hand würde den Fels verlassen, über seinen Kopf schwingen und so weit wie möglich nach oben schwingen, um in die Felsspalte zu greifen, von der er wusste das sie dort oben sein würde. Aus seiner Position war sie nicht sichtbar, doch er wusste, dass sie da war. Er hatte sie auf einer seiner letzten Touren entdeckt. Es würde schwer werden, denn er musste all seine Kraft zusammen nehmen müssen, um seinem Körper den entscheidenden Schwung zu geben. Der Schwung würde das wichtigste sein. Das war ihm klar. War er zu schwach, konnte es passieren, dass die Finger seiner rechten Hand nicht weit genug nach oben kommen würden. Zum ersten Mal wurde ihm klar, dass er scheitern könnte. Für den Bruchteil einer Sekunde verdunkelte sich seine Stimmung. Bilder der Vergangenheit tauchten vor seinem Auge auf. All die Fehler seines Lebens erschienen, um ihn zu begrüßen. Es war, als wollten sie ihm Lebewohl sagen, ihn verspotten, hier in der Felswand. Er wischte das Phantom beiseite. Das konnte er gut. Er lächelte grimmig, hob zügig das rechte Bein und stemmte es in die Felsspalte. Als er Halt spürte, ließ er das linke folgen und griff mit der linken Hand auf den Absatz. Jetzt kam der entscheidende Augenblick. Er durfte keine Sekunde zögern. Er riss den rechten Arm hoch und zielte in die unsichtbare Felsspalte. Mit enormem Schwung krachten seine Fingerkuppen auf den glatten Fels. Das tat weh! Durch den Positionswechsel konnte er jetzt die erwartete Öffnung im Fels und seinen letzten Fehler sehen. Seine Finger waren knapp unter der Spalte auf den Fels gelandet. Es fehlten zwei Zentimeter.