Die Ebene 15. „Die bunte Geschichte“

Seine Augen wandern über den Bildschirm. Da war doch was! Er hat es genau gesehen. Während der armselige Schauspieler auf der anderen Seite der Mattscheibe verzweifelt versucht, den Bösen zu entkommen bewegt sich der Kopf des Fernsehzuschauers immer näher an das Glas. Dann wandert er seitlich. Der Schauspieler fliegt auf die Fresse. So hat er keine Chance, denkt der Betrachter und im gleichen Augenblick sieht er den kleinen Punkt Fliegendreck, der ihm den reinen Fernsehgenuss verwehrt hat. Zufrieden sieht er, wie sich der Schauspieler wieder aufrappelt und weiter rennt. Dicht gefolgt von den Ganoven. Er spuckt kurz auf seinen Zeigefinger und beginnt zu reiben.

Was kann ich dafür? Ihr Kopf wirbelt herum. Sie sieht ihm beim Rasieren zu. Er scheint in sich versunken. Mit den Gedanken Lichtjahre von der Wirklichkeit entfernt. Tatsächlich konzentriert er sich darauf, die empfindliche Haut über seinem Kehlkopf nicht zu zerfetzen.  Vorsichtig streicht die Rasierklinge durch den Schaum. Du weißt genau, dass wir diesen Termin nicht verpatzen dürfen! Es ist zu wichtig! Sie ist immer noch aufgeregt. Natürlich weiß sie, dass sie Mist gebaut hat. Das Treffen mit den Van der Saars gerade auf heute zu legen. Aber wie konnte sie wissen, dass gerade heute das Europacupendspiel ist. Und er als einer der letzen Karten dafür ergattert hat. Der blöde Idiot. Sonst macht er sich doch nicht so viel aus Fußball. Der Idiot spült gerade die Rasierklinge aus, um wieder ansetzen zu können. Bis jetzt ist alles gut gegangen. Die Karten hat er einem Kollegen gegeben. Was soll´s? Er hasst sowieso Massenaufläufe. Aber soll sie ruhig ein bisschen schmoren. Und sie schmort. Hat Angst, dass heute alles in die Hose gehen wird. Was heißt Angst. Sie weiß, dass sie das Treffen verkorksen werden. Dabei geht es doch um so viel! Die Klinge nähert sich dem letzten Rest Schaum, taucht sanft ein und findet einen unerwarteten Widerstand in Form einer Hautunebenheit. Doch sie ist scharf wie das Beil eines Henkers und löst den Fall. Das Blut färbt den Schaum rot. Er flucht innerlich; rasiert weiter. Als er fertig ist, legt er das Rasiermesser beiseite, benetzt sein Gesicht mit heißem Wasser und betrachtet im Spiegel, wie aus der jungfräulichen Wunde erneut Blut fließt. Er greift zum Handtuch, steckt den Ziegefinger so hinein, dass sich der Stoff um die Kuppe spannt und beginnt an der verletzten Stelle zu tupfen.

Es ist ein Scheißtag. Nach einer langen Nacht musste ich um 6 Uhr früh zum Dienst. Normalerweise ist das kein Problem. Doch heute hat sich das Schicksal gegen mich verschworen. Ich bin jetzt schon 14 Stunden auf den Beinen und noch immer ist kein Ende in Sicht. Es hat Unfälle gegeben gestern Nacht. Mehr als je zuvor. Seit Dienstbeginn schleppen die Sanitäter, Zivis und was sonst noch im Klinikum rum springt immer wieder neues Material für mich an. Alles nichts Besonderes; verletzt, verstümmelt, zermatscht. Doch was sie jetzt auf meinen desinfizierten Edelstahltisch legen, hab ich noch nicht gesehen. Es ist ein länglicher Klumpen aus Fleisch, Knochen und Blut; eingewickelt in die übliche Leichentüte aus halbtransparenter Folie. Ich blicke fragend auf. Sind zwei! sagt der eine der beiden Sanitäter ungerührt und sie verlassen den Raum ohne Gruß. Wozu auch? Sie werden ja gleich wieder kommen. Das erste Mal seit dem ich den Job hier begonnen hab, ist mir ein bisschen schlecht. Ich greife nach den Papieren. Ein Mann und eine Frau. Sie müssen sich gegenüber gestanden haben, als die beiden Busse frontal aufeinander prallten. Linie 17 hat die Frau in den Mann geschoben. Oder Linie 23 den Mann in die Frau. Oder umgekehrt. Hier sind die Aufzeichnungen der Beamten nicht so genau. Auf meinem Tisch liegen also zwei Menschen, die von zwei Bussen in einander gepresst wurden. So gut, dass sie jetzt gemeinsam auf meinem Edelstahltisch Platz haben. Das ist, was bleibt. Ich öffne den Reißverschluss und begutachte die Sauerei. Meine Hand greift zur Pinzette und nähert sich dem zerstörten Gewebe.

Sie schaut noch mal nach. Hatte sie wirklich an alles gedacht? Sie muss lächeln bei diesem kindischen Gedanken. Schließlich hat sie die Formel schon dreiundvierzig Mal kontrolliert und nie auch nur einen Fehler registriert. Trotzdem wandert ihr Blick durch den Raum. Es ist ein großer alter Seminarsaal mit Tafeln, die über drei der Wände reichen. Die Tafeln sind ausziehbar und erreichen so eine Höhe von fast zwei Metern. Fast jeder Quadratzentimeter ist bedeckt mit Kreide. Jetzt in den Semesterferien hatte sie Zeit, um ihre Idee von der Aufhebung der Gravitation zu prüfen. Und sie hat sie genutzt. Warum auch nicht? Obwohl sich praktisch jeder Student nach ihr umdreht und vor Sehnsucht zerfliest, hat sie keinen Freund. Es ist ihr zuwider mit anderen Menschen zusammen zu sein. Nur hier in der Stille des alten Seminarraums des Geophysikalischen Instituts fühlt sie sich wohl. Gemeinsam mit ihren Formeln. Die ihr jetzt nach zwei Monaten des rastlosen Rechnens, des zweifelfreien Beweisens und der zweifelhaften Nachstellungen des schwedischen Hausmeisters so vertraut vorkommen, wie ihre eigene Familie. Sie schaut sie zärtlich an. Für einen kurzen Moment durchströmt sie ein ungeheurer Schauer des Glücks und die Kreide beginnt auf dem Schiefer zu kratzen.

Ben Walder ist mit sich zufrieden. Gerade ist er zum zweiten Mal gestürzt und hat sich nicht verletzt. Hat er doch gewusst, dass es klappen würde. Wie oft hat er darauf bestanden, dass er kein Double braucht. Jetzt endlich ließen sie ihn. Er fühlt sich wie der große Belmondo und genauso wie dieser in „Außer Atem“ rennt er um sein Leben. Zumindest soll es so aussehen. Schließlich ist er auf dem großen Sprung zum echten Star. Berlin, Paris, Hollywood! Sie werden sich um ihn reißen. Er unterdrückt das Grinsen und schaut sich stattdessen gepeinigt um. Sie sind immer noch hinter ihm. Gut! Diese Szene muss er wohl nicht wiederholen. Alles läuft zu gut. Er wendet den Kopf wieder nach vorne. Es wird das letzte sein, was er in seinem Leben zu Ende bringt.

Der Finger, den er noch vor kurzem mit Spucke eingedeckt hat versinkt in der Bildröhre. Er sieht, wie er über der Verfolgungsszene schwebt. Das ist unglaublich! schießt es ihm durch den Kopf und er reißt die Hand vom Bildschirm weg. Betrachtet sie. Dann berührt er wieder das Glas. Stößt hindurch und bewegt den Finger hin und her. Dunkel schwebt die Kuppe über der Szene.  Er ist nicht dumm. Abi, Studium. Alles kein Problem. Auch das hier übersteigt seine Vorstellungskraft nicht weiter. Er kann also mit seinem Finger in die Szene eingreifen. Na und! Es gibt schlimmeres. Langsam ergreift ein primitiver und gemeiner Plan sein Hirn. Die Gedanken formen sich von selbst. Diesen Ben Walder konnte er noch nie ausstehen. Was wäre wenn? Langsam nähert sich sein Finger der winzigen Gestalt, die für viele die Hoffnung des Deutschen Kinos darstellt.

Ihr Gehirn ist wie besoffen, dabei waren es nur zwei Gläschen Sekt und der wunderbare Barolo zum Essen. War doch alles gar nicht so schlimm. Er hat gut mitgespielt. Jetzt haben sie die Van der Saars in der Tasche. Morgen werden sie zum Notar gehen und alles festzurren. Sie werden bald Eigentümer eines 200 Quadratmeter-Hauses mit Garten und Balkon sein, dass sie nur die Hälfte des Marktwertes kosten wird. Was macht es da, dass er Gedanken verloren vor der Auslage des HiFi-Ladens stehen bleibt und mit dem blöden Blick eines beschränkten Kindes die Stereoanlagen betrachtet. Sie ist fast zwanzig Meter vor ihm und im Begriff, die Straße zu überqueren, als sein Handy piept. Er greift in seine Hosentasche und blickt auf die angekommene SMS: 0:4. Diesem Elend ist er also entkommen. Grinsend schließt er zu ihr auf.

Der Busfahrer der Linie 23 kann nicht ahnen, dass an diesem Abend die Gesetze der Physik anders sind, als gewohnt. Sein Bus ist leer und er will nur nach hause. Ein, zwei Bier trinken und sich die Zusammenfassung des Europacupfinales anschauen. Etwa zwei Kilometer weiter, in der entgegenkommenden Linie 17 sitzen ein paar Besoffene. Sie kommen vom Spiel und trauern um den verpatzten Erfolg. Irgendein Trottel hatte ihnen die Karten vermacht. Momentan kann sich keiner daran erinnern, wer es war. Doch sie verfluchen ihn. Die Schlappe war doch zu derb und wegen dieses Idioten waren sie dabei. Gedemütigt von diesen Italienern. Auch sie können nicht wissen, dass nach dem 0:4 alles anders sein wird.

Egal wie viel ein Mensch weiß. Es gibt immer einen Punkt, an dem er ahnungslos da steht und von der Wirklichkeit überrollt wird. So ergeht es der jungen Wissenschaftlerin, als sie den letzen Kreidestrich an ihre Formel setzt. Wenn einer ihrer Kollegen oder der schwedische Hausmeister sie gesehen hätte, dann hätte er sicher gedacht, sie ist auf einem Drogentrip. So entrückt sieht sie aus. Doch sie hat keine Zeit den Moment länger als einen Augenschlag zu genießen. Der Moment trifft sie unvorbereitet. Schließlich gehört es zu den menschlichen Erfahrungen, dass Wissen sich nicht sofort umsetzt. Es braucht immer eine zweite Instanz, die aus dem Wissen Wirklichkeit werden lässt. Doch heute ist es anders. Kaum hat sie die Kreide von der Tafel gezogen, geraten die Dinge aus den Fugen.

Ben Walder kann nicht mal mehr dämlich drein schauen, so schnell rast diese seltsame Masse Fleisch auf ihn zu. Wo kommt Gott verdammt noch mal der Finger her? wollen seine Gedanken noch bilden, als es schon zu spät ist.

Er hätte nicht gedacht, dass es so einfach sein würde. Natürlich fühlt er sich nicht als Mörder. Schließlich ist das ja nur ein Film und wenn da jemand mal ein bisschen im Drehbuch rum pfuscht, dann wird das nicht gleich die Welt aus den Fugen heben. Dummerweise ist gerade das der Fall. Als er sich nach seinem Bier umdreht, um den Moment zu genießen muss er feststellen, dass er nicht mehr vor dem Fernseher ist. Er ist auch nicht mehr in seiner Wohnung. Etwas Weiches ist unter ihm. Es ist das linke Bein des Busfahrers der Linie 23 auf dessen Schoß er jetzt sitzt und dem er die Sicht versperrt. Allerdings ist das eigentlich auch egal. Niemand könnte etwas mit dem Gesehenen anfangen. Zu sehr unterscheidet es sich von bisher Gesehenem. Alles ist durcheinander. Zeit, Raum, Licht und Masse sind eine kryptisch pulsierendes Etwas. Ein Wink des Schicksals hat nur vor ein paar Dingen halt gemacht. Dazu gehören die Linie 17 und die Linie 23, die mit den auf dieser Straße erlaubten 70 km/h aufeinander zu rasen.

Sie schaut ihn fragend an. Wer war das? In ihr wächst ein winziger Keim Gift. Gegen ihre Eifersucht konnte sie noch nie etwas unternehmen und heute wird sie keine Gelegenheit mehr bekommen. Sie stehen sich gegenüber und auch er hat keine Zeit mehr seinem Leben jetzt noch eine bedeutende Wendung zu geben. Das übernehmen die beiden Busse der Städtischen Fahrbetriebe. Schon nach 13 Mikrosekunden platzen ihre ersten Zellen durch den Druck. Nach 27 Mikrosekunden beginnen die Körperflüssigkeiten damit sich zu vermengen. Noch vor kurzem war es das, was sie an dem Idioten so attraktiv fand. Heute ist das anders. Irgendwo bricht der erst Knochen. Zuerst sind es zwei Bruchstücke, dann weitere 12 Mikrosekunden später ist es ein einziger Salat. Da Gedanken in so einer Situation besonders schnell sind, haben beide noch Gelegenheit, aus den Augenwinkeln eine junge und aufstrebende Physikerin neben sich zu sehen. Beide meinen, sie habe die Schultern wie zu einer Entschuldigung hochgezogen. Dann wird es doch dunkel.

Irgendetwas stimmt hier nicht. Ich greife noch mal zu den Papieren. Zwei Personen. Eine weiblich, eine männlich. Ich beuge mich wieder über den Edelstahltisch. Am Rand liegen fein säuberlich neben einander die Gliederknochen der Finger. Ich zähle noch mal. Es sind mehr als zwanzig. Mein Hirn kombiniert jetzt Messerscharf. Die Sauerei auf meinem Edelstahltisch stammt von mehr als zwei Personen.

Natürlich ist ein Augenblick der Erkenntnis durch nichts aufzuwiegen, doch in diesem Moment würde sie gerne darauf verzichten und sehnt sich das erste Mal in ihrem jungen Forscherleben nach dem dümmlichen Geschwätz ihrer Altersgenossen. Sie will nur weg, denn sie weiß, sie hat einen bösen Fehler gemacht. Auch hier erlaubt sich das Schicksal einen jener wundervollen Zufälle zu kreieren, die für manchen an ein Wunder grenzen. Für die junge Wissenschaftlerin ist es eher Pech. Sie landet zwischen Linie 17 und 23.

Von all diesen Ereignissen bleibt nur einer verschont: Svende Hergenson ist schon wieder so weit, dass er Wahrnehmung und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden kann. Und somit irgendwie sowieso immun ist gegen eine Veränderung der Realität. Unten im Keller des geophysikalischen Instituts brennt er seinen eigenen Schnaps. Hochprozentiges musst du selber produzieren!  hatte ihm sein Vater mit auf den Weg gegeben. Svende Hergenson stammt aus einem alten schwedischen Geschlecht von Hardcore-Trinkern. Schon zu Zeiten der Wikinger waren seine Vorfahren fürs Schnapsbrennen zuständig. Svende setzt diese Tradition einfach nur fort.  Hochintelligent, talentiert und motiviert hat er sich vor Jahren den Naturwissenschaften gewidmet. Doch dann haben ihn sein Erbgut und ein paar andere unglückliche Ereignisse davon überzeugt, dass er es seinen Ahnen gleichtun sollte und er wurde Hausmeister. Als er jetzt den Seminarsaal betritt, um der schönen Physikerin zu begegnen, ist er so blau, dass es fast zwei Minuten dauert, bis er feststellt, dass sie nicht mehr da ist. Wankend betrachtet er die Tafeln. Irgendetwas in seinem Alkohol getränkten Hirn signalisiert erkennen. Er blinzelt. Dieses Luder hatte wirklich Talent. Das muss man schon sagen. Während seine Augen die einzelnen Tafeln überfliegen, fliegt er der Länge nach auf die Schnauze. Nie zu lange stehen bleiben, wenn du getankt hast. Er rappelt sich hoch und auf ein Mal überkommt ihn Wut. Wut auf sein verkorkstes Leben aus Alkohol und Einsamkeit. Wut auf all die ignoranten Gelehrten, die ihm einst den Schneid abkauften. Wut auf diese junge Schlampe, die – und das weiß er ohne lange nachzudenken – schon jetzt weiter ist, als er je gekommen wäre.  Er greift sich den Schwamm und beginnt zu wischen.

Aus dem Chaos werden in der Erinnerung nach und nach ganz normale Unfälle und nur wenige wundern sich über die irren Geschichten, die manche Zeugen berichten. Auch mich kümmert es nicht. Ich habe meinen Job getan. Vor mir liegen jetzt drei Kunststoffsäcke. Jeweils gefüllt mit den Überresten von nur einer Person. Ich bin mir sicher, dass das niemand sonst geschafft hätte. Denn ich weiß: ich bin der Beste.

Svende Hergenson kann nicht wissen, dass er gerade die Welt gerettet hat. Genau fünf Minuten und 13 Sekunden nachdem die junge Physikerin die Weltformel – ein anderer Begriff wäre wohl unpassend – zu Ende gebracht hat, sind die Tafeln wieder so blank wie vor zwei Monaten. Der schwedische Hausmeister liegt schnarchend unter dem Pult und rührt sich nicht mehr. Tief in seinem Hirn arbeitet es jedoch. Die ersten Neuronen bilden sich neu. Bruchstücke der Formel erscheinen im frontalen Cortex, werden wieder zusammen gefügt, nehmen Form an. Es ist nichts verloren. Im Stammhirn bereiten sich die Zellen darauf vor, einen diffusen Rachegedanken zu formulieren. Er, Svende Hergenson wird sich nicht von so einer Tusse ausboten lassen. Gleich morgen wird er mit dem Saufen aufhören, na gut es reduzieren und dann eines Tages…

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