Sie sitzen schon alle da. Trotz des Todes des Inders ist die Stimmung nicht übermäßig gedrückt. Ein Blick auf die Batterie geleerter Proseccoflaschen verrät mir warum. Das Zeug ist anscheinend für alles gut. Ben und Ludmilla haben gekocht. Jeder hier könnte die Küche eines Spitzenrestaurants leiten. Irgendein Schwachkopf war auf die Idee gekommen, dass gemeinsames Kochen die Crew auf Weltraummissionen besser zusammenschweißt. Das hat zwar nichts mit der Wirklichkeit zu tun, sorgt aber für gutes Essen an Bord. Wir wurden wahrscheinlich durch die härteste Kochschule der Welt geprügelt. Dagegen war das Fitnessprogramm ein Kinderspiel. Trotzdem gibt es leichte Unterschiede. Während ich mich nur recht zurückhalten an den Kochorgien beteilige – meist um in der Nähe Sylvias zu sein – gibt es Crewmitglieder, die sich dem mit kindlicher Begeisterung hingeben können. Ludmilla ist so ein Fall. Bei all ihrer Strenge. In der Küche wird sie zum Menschen. Sie albert, macht Späße und wirft die Töpfe und Pfannen in die Luft, wenn ihr danach ist. Es ist manchmal wenig, was der Mensch zum Glück braucht. Ben ist sicher der ideale Partner für Ludmillas Begeisterung. Bar jeden Selbstzweifels macht er alle Späße mit. Sogar mich hätte er fast mal eingewickelt, wenn er nicht ständig am Grill stehend die Würste mit männlichen Geschlechtsorganen unterschiedlicher Nationalität verglichen hätte. Ein oder zwei solcher Scherze höre ich gerne und ich kann auch drüber lachen. Doch Ben hatte 57 verschiedene Sorten in der Mache und lies keine aus: „Schau mal die kleinen Gelben da. Das sind Chinks! Hahahha…“ usw… Heute gibt es keine Würste. Ludmilla verliest die Menufolge. Gleich wird sie wieder die alte sein. Soviel Spaß ihr Kochen bereitet, sowenig Freude hat sie am Essen. Liegt vielleicht auch an der Art, wie sie die Speisen interpretiert.
„Es gibt heute Suppe mit Gemüse. Dann folgt der Hauptgang aus Fleisch und Stärkebeilage. Wer mag nimmt sich was von dem Salat. Zum Schluss dann Käse und Süßspeise.“
Kein einziges Wort gelogen, doch jeder andere hätte Ludmillas Klarheit umgangen und wenigstens ein bisschen von Petersilie an Fettaugen geschwafelt oder so. Mir gefallen Ludmillas Ansagen und es tut mir weh, dass sie selbst unter ihrer Sichtweise leidet. Ben ist da anders. Mit großer Geste entkorkt er den Rotwein.
„Bordeaux, 1997er, Chateau Isidor blablablla!“
Schenkt Sylvia!!!! einen kleinen Schluck ein, zwinkert ihr zu und lässt sie kosten. Sie lässt sich nichts anmerken, kippt den Stoff runter und hält das Glas erneut hin. Ben macht die Runde, grinst mir überlegen ins Gesicht als er bei meinem Glas angekommen ist und setzt sich dann schließlich auf seinen Platz. Ich habe mich inzwischen gewappnet. Bin unverwundbar geworden. Ben und Sylvia sind mir egal. Selbst Tausendschönchen kann mir nichts. Ich bin frei. Mit diesem Gedanken setze ich den Roten an die Lippen. Urplötzlich schießt ein Gedanke durch meinen Schädel. Rotwein – 1997 – Chateau Isidor. Da war was. Ich erinnere mich noch genau an die Zeit. Ich war drauf und dran, zum kompletten Arschloch zu mutieren. An der Uni galt ich als talentiert. Ich selbst hielt mich für ein Genie, den neuen Helden der Chirurgie. Meine Augen waren besser, meine Hände waren ruhiger, meine Gedanken schneller als die aller anderen. Damit das so blieb kippte ich jeden Abend eine Flasche Bordeaux in mich rein, wenn es die Gelegenheit ergab auch mehr. Bevorzugt Chateau Isidor. Damals die Hausmarke vom nächstgelegenen Discounter. Während ich das Zeug in mich rein laufen ließ, las ich alles, was mit meinem Fach zu tun hatte. Ich wollte es wissen. Und in einem dieser Fachartikel war von einem Stoff die Rede, der Epilepsieähnliche Anfälle verursacht. Das Jahr und das Symptom sollten ausreichen, um den Artikel wieder zu finden. Ich nippe nur kurz an dem Glas. Verstecke meine Erregung hinter einem verstörten Lächeln und warte auf den Moment am Computer.