etwa wöchentlich erscheinen hier die bisherigen kapitel!
1.
Captain Miller beugt sich über das Schaltpult. Er dreht seinen Kopf und schaut uns ernst an:
„OK, ihr wisst, dass das schief gehen kann. Niemand öffnet ungestraft ein Fenster im Weltraum. Genau so wenig, wie es hier oben bescheuert wäre, die Tür zu öffnen ohne die Schleuse zu benutzen. Hier herrschen…..“
Mehr bekomme ich nicht mit. Meine Gedanken driften ab. Miller ist zwar ein astreiner Astronaut aber ansonsten ein ausgemachter Idiot. Irgendwann muss er sich diese Ansprache ausgedacht haben. Jetzt ist er so stolz darauf, dass er sie praktisch jedes Mal abzieht, wenn er einen Schalter umlegt und einer von uns in der Nähe ist. Wir, das sind die vier Wissenschaftler: Smerg Johannsen, ein großer Däne, der nie etwas sagt und von dem niemand weiß, was er weiß; Svende Hergesen ein etwas verwachsener Astrophysiker, der von sich behauptet aus einem alten Geschlecht schwedischer Kampftrinker zu stammen; Ravi Yogudings dessen Namen sich niemand merken kann und der anscheinend noch mehr weiß, als der schweigsame Däne und dann ist da noch das Flagschiff der Hirntruppe: Eine blutjunge deutsche Wissenschaftlerin. Sind die ersten drei schon ein origineller Haufen, so schlägt sie dem Fass den Boden aus. Bildhübsch wie sie ist, verdrehte sie den männlichen Astronauten sofort den Kopf. Ben, Millers 1. Offizier wäre beim Einstieg fast die Stufen des Raumschiffes runter geflogen, wenn ihm sein Captain nicht mit einem beherzten Tritt in die Eier zur Vernunft gebracht hätte. Aber zurück zu der jungen Wissenschafterin. Niemand an Bord weiß ihren Namen. Auch weiß niemand, welche Funktion sie hat. Nur eines ist allen klar: Sie ist die einzige, die kapiert, um was es bei unserer Mission geht. Ansonsten, war schnell klar, dass sie einen Totalschaden hat. Also keinen Totalausfall, aber sie lebt halt in ihrer eigenen Welt. Nix mit anzufangen. Zu den vier Forschern gesellen sich noch die vier Astronauten, Captain Miller, Ben, Captain Ludmilla und Maria, jede Position doppelt besetzend. Falls was schief geht. Oder so. Außerdem gibt es noch die Dolmetscherin und Sprachexpertin Sylvia, die wohl dabei ist, damit es keinen allzu großen Männerüberschuss gibt. Andererseits beherrscht sie die Heimatsprachen aller Reiseteilnehmer perfekt, was auch nix schadet. Vielleicht hat sie ja noch eine andere Aufgabe, von der ich nichts weiß. Signale entziffern oder so. Mir ist es recht, denn sie gefällt mir. Werde sie später noch beschreiben. Erst mal kurz zu mir, damit klar ist, wer hier erzählt. Ich bin dabei, weil ich von Anfang an dabei bin. Der Zufall wollte es, dass ich von der Geschichte Wind bekam.
2.
Das war vor gut drei Jahren. Gemeinsam mit einem Freund bin ich auf einem Feld in der Nähe Braunschweigs. Ich will nicht gemein sein, aber es fällt mir schwer etwas Nettes über die Landschaft zu sagen. Tut aber auch nix zur Sache. Wir besuchen eines der merkwürdigsten Experimente der Menschheit. Es geht darum, die Schwerkraft zu messen. Genauer gesagt, eine Änderung der Schwerkraft. Hier muss ich kurz warnen, selbst wenn ich mir Mühe gebe, bin ich mir nicht sicher, ob ich es verstanden habe, geschweige denn ob ich es erklären kann.
„Sehen Sie diese Schleuse hier? der Physiker schaut uns fragend an.
Wir nicken, was nicht schwer fällt, denn das Schleusentor ist rot und hat einen Durchmesser von drei Metern. Der Physiker heißt Gunter Meier, ist knapp zwei Meter groß, von massiger Gestalt, die Haare hängen ihm in einem langen Zopf den Rücken runter. Ein Bart verdeckt einen Unterbiss oder ein Fliehkinn oder beides. Seine besockten Birkenstocks scharren auf dem Beton. Es wird wohl ernst.
„Hinter dieser Schleuse befindet sich eine von zwei vierhundert Meter langen Vakuumröhren. In diese jagen wir einen hyperkonstanten Laserstrahl. Der wird am Ende der Röhre von einem Spiegel reflektiert und prallt hier erneut auf einen Spiegel. Der lenkt den Laserstrahl um exakt 87,5 Grad ab und schickt ihn in die zweite Vakuumröhre. Dort wird der Strahl erneut reflektiert und geht wieder über 87,5 Grad-Spiegel.“
„Warum 87,5 Grad?“ frage ich.
Ich habe praktisch nix kapiert und klammere mich an dieses Detail, um bei dem riesigen Wissenschaftler Eindruck zu schinden. Er schaut mich aus fröhlich lächelnden grauen Augen an.
„ Die Bauern hier sind nicht doof. Als sie merkten, dass wir Land brauchten, sind die Grundstückspreise angestiegen. Und da die Gemarkungen hier nicht rechtwinklig verlaufen, war es günstiger das Ganze für diesen krummen Winkel zu berechnen, als die Anlage rechtwinklig zu bauen. Dadurch mussten wir bloß zwei Landwirte auslösen. Das gab dann natürlich Stress in der Gemeinde, aber das könnt ihr ja auch in der Lokalpresse nachlesen.“
Ich grinse zurück. Dass er ins Du übergegangen ist, zeigt, dass er uns nicht für vollkommen verblödet hält.
„Na ja die Details sind eigentlich auch egal. Wir erzeugen halt einen extrem langen und extrem konstanten Lichtstrahl. Wird der durch ein Schwerkraftereignis in der Nähe gestört, so können wir das feststellen.“
Ich werde mutiger: „Was genau kann ich mir unter Schwerkraftereignis vorstellen?“
Er schaut mich mild an: „Nun eine Supernova, eine Sternengeburt oder ein Schwarzes Loch, oder sonst irgendwas, das irgendwo da draußen vorkommt und heftig genug ist, die Schwerkraft zu verändern.“
Ich nicke. Bin zwar kein Physiker, aber mir wird klar, dass hier was ganz Großes gemessen werden soll.
„Und habt ihr schon mal was gemessen?“ duze ich zurück.
„Das ist das Problem. Leider nein – oder zum Glück. Es gibt nur noch drei weitere dieser Geräte auf der Welt. Das sind die einzigen, die so was messen könnten. Wenn es uns gelingt, dann gibt das den Nobelpreis. Wenn nicht, dann ist das hier die teuerste Gemarkungsgrenze Niedersachsens.“
Heute frage ich mich, ob das nicht die bessere Lösung gewesen wäre.
3.
Langsam schiebt sich das Schutzschild vor dem Fenster zurück. Dunkelheit und Licht strahlen zu gleich auf unsere Gesichter. Wir schauen auf das All. Ist schon toll.
„Da!“ bricht Smerg Johannson sein Schweigen.
Er zeigt auf zwei riesige Sterne, die zum Greifen nah scheinen, in Wirklichkeit aber Millionen von Kilometern entfernt sind. Die junge Wissenschaftlerin fängt an, etwas Unverständliches in ihr Diktafon zu brabbeln. Gleichzeitig blickt sie auf die Bildschirme vor sich und bedient zwei Tastaturen. Ich schaue zu Sylvia, hoffe einen Blick des gemeinsamen Verständnisses zu erheischen. Doch anders als sonst schaut sie nicht zurück. Die zwei Sterne sind wohl wichtiger. Beleidigt starre ich ebenfalls aus dem Fenster. Was ich sehe, lässt mich verstehen, warum Sylvia mich nicht beachtet.
4.
An dieser Stelle muss ich – sicher zum Ärgernis der Leserin – einen Blick auf die Ereignisse werfen, die sich kurz nach meinem Besuch in der obskuren Apparatur nahe Braunschweig ereigneten. Es fällt mir schwer, jetzt wo die Dinge immer noch so ungewiss sind, einen klaren Gedanken zu fassen.
Kurz nach der Begegnung mit Gunter Meier bekomme ich die Nachricht, dass der nette Physiker bei Wartungsarbeiten getötet wurde. Die genauen Umstände seines Ablebens sind Gegenstand einer mehrköpfigen Kommission. Mittlerweile schlummern die Untersuchungsergebnisse unbeachtet im Landgericht Braunschweig. Folgendes habe ich erfahren: Meier hatte gemeinsam mit seinem Kollegen Fritsche, den ich auch kannte, ein neues Messsystem angebracht. Dieses Messsystem sollte den Braunschweiger Messkanal den anderen überlegen machen. Die beiden Wissenschaftler hatten das neue Instrument gerade justiert, als ein für den Laien unscheinbares Signal auf dem Monitor erschien. Für Fritsche und Meier war der dezente Peak bei 240 Nanometern alles andere als unscheinbar. Sie hatten den ersehnten Schwerkraftsprung gemessen! Sollte das der Nobelpreis sein? Der Hysterie nahe beugten sich die Physiker über die Aufzeichnungen. Wer weiß, wie viele Jahre Arbeit in so einem Projekt stecken, kann vielleicht verstehen, warum sie die üblichen Sicherheitsmaßnahmen nicht beachteten. Ein Großmessgerät dieses Kalibers ist keine Blackbox wie ein iPod. Überall hängen Kabel rum, viele davon leiten Signale weiter. Sie sind bunt aber harmlos. Doch ab und an gibt es da wohl Starkstromkabel. Schwarz, grau oder rot ummantelt. Keine Ahnung. Wichtig ist nur: Eines davon hatte sich während der Wartungsarbeiten gelockert und genau im Moment der sensationellen Entdeckung gelöst. Meiers Pech war, dass er genau darunter stand. Fritsches Glück war, dass er Meier nicht ein zweites Mal auf die Schulter klopfte. Meiers Haarzopf strebte vibrierend nach außen – unentschieden, ob Locken zu bilden seien oder ob es besser sei, auszufallen. Der Raum roch schnell nach verkohltem Fleisch. So ist das, wenn 4800 Volt durch einen menschlichen Körper jagen.
Damals wusste ich nichts von den Details. Nur eines war klar: Der Braunschweiger Schwerkraftkanal hatte ein Ereignis gemessen. Irgendwo da draußen.
5.
Deswegen sind wir hier und starren aus dem Fenster. Die beiden Sterne haben ihre Position nicht verändert. Sie sind es auch nicht, was uns wie blöde glotzen lässt. Es ist der Raum zwischen den beiden Sternen. Es wäre vermessen, würde ich behaupten, ich könne die Erscheinung hier mit Worten wiedergeben. Ich will es trotzdem versuchen, auch wenn meine Sprache nur einen Abklatsch dessen geben wird, was wir dort draußen sehen. Es wird so sein, als wolle ein Dreijähriger Michelangelos Meisterwerke in einer ihm unbekannten Sprache beschreiben. Es wird genauso hoffnungslos sein, wie es ist, das Licht auszumachen und so die globale Erwärmung zu stoppen. Es wird in die richtige Richtung gehen, aber eben nicht sehr weit. Spätestens hier merkt die Leserin sicher, dass ich mich vor der Beschreibung drücke. Doch alle Worte der Menschheit würden nicht ausreichen. Ja man könnte sogar auf das Schweigen des dänischen Forschers neben mir nicht verzichten. Übrigens hat der gerade den Mund wieder zugemacht, nur um ihn wieder aufzumachen und zu und auf und so weiter. Sieht aus wie ein Karpfen. Ich mache mir ernsthaft Sorgen, ob er nicht gleich Amok läuft. Unser schwedischer Begleiter mit dem Kampftrinkergen greift in seine Brusttasche und holt den Flachmann raus, den ich dort immer schon vermutet habe und nimmt einen beherzten Schluck.
„Gute Idee!“ grinse ich hinüber und finde meine Hoffnung bestätigt.
Er reicht den sicher selbst gebrannten Schnaps rüber. Diese Geste lockert die Atmosphäre. Sylvia schaut mich an und ich reiche ihr die Flasche. Auch die Astronauten holen auf einmal bisher verborgen gehaltene Spirituosen aus ihren schicken Overalls. Hatte nicht gedacht, dass die Staaten unserer Erde eine Seminareinheit anonymer Alkoholiker auf so eine wichtige Reise schicken. Aber vielleicht haben die Generäle und Präsidenten einfach mehrere Missionen ausgesandt und wir waren diejenige, die eben scheitert. Damit würde sich die statistische Wahrscheinlichkeit der anderen Trupps zu überleben zwar nicht ändern. Aber ich bezweifele, dass irgendein Entscheidungsträger Ahnung von Statistik hat. Ich schweife schon wieder ab. Sorry! Der Alkohol macht mich halt ganz benebelt und ich frage mich, was zum Teufel da wohl vergoren wurde. Ich blicke wieder aus dem Fenster und hoffe, dass sich der Nebel lichtet. Tatsächlich. Jetzt wird mir klar, warum die Schweden so ein angenehmes Design haben. Ich sehe die beiden Sterne mit neuen gewaschenen Augen.
„Sieht aus, wie zwei Spiegeleier auf einem großen Teller.“
Es ist Sylvia, die wieder mal beweist, dass sie ihre Tassen im Schrank aufrechet stehen hat.
„Fehlt nur noch Petersilie“
das kommt aus Captain Millers Mund. Weiß der Teufel, wo der Idiot diesen Einfall her hat, aber wir müssen alle grinsen. Meins fällt ein bisschen säuerlich auf, denn ich habe ihn in Verdacht, auf Sylvia scharf zu sein und mit seinen Petersilien könnte er Boden gut gemacht haben. Aus den Augenwinkeln kann ich sehen, wie sie ihm anerkennend zulächelt. Verzweifelt krame ich nach einer ähnlich qualifizierten Bemerkung.
6.
Der große Däne fährt in meine erfolglosen Gedanken:
„Wisst ihr, bei uns in Dänemark, also genauer gesagt in Nordjytland, also dem Dänemark, dass von sich und von dem alle Dänen, die Ahnung haben behaupten, es sei das richtige Dänemark, auch wenn die Flachköpfe aus Midjytland oder die Fischfresser aus Sjaelland, der Meinung sind, sie seien die wahren Dänen, was völliger Quatsch ist, denn König Sven Gabelbart hat 993 n. Chr. in seiner für die damaligen Verhältnisse ausgesprochen fortschrittlichen Bulle erklärt, dass wenn ein Däne nicht aus Nordjytland stamme, er auch nicht das Recht habe, unter seiner Herrschaft oder der Herrschaft seiner Nachkommen zu behaupten er sei Däne, machen wir die Spiegeleier so, dass das Eigelb nur an einer Ecke zerläuft, also so!“
Er zeigt es, in dem er mit seinen riesigen Händen auf der Fensterscheibe rumschmiert. Damit wir besser erkennen, was er meint, spuckt er kurz auf die Glasfläche und verreibt den Speichel von einem der Sterne ausgehend nach außen.
„Das sieht dann so aus, wie Nordjytland, versteht ihr und wenn dann das flüssige Eigelb den noch warmen Toast erreicht und sich mit der Butter, es muss dänische Butter sein, das ist wichtig, aber nicht aus Sjaelland, die schmeckt nach Fisch, dann musst du es mit der Hand nehmen, nicht mit Messer und Gabel, das machen Barbaren, und es so zusammenklappen.“
Hier greift er sich eines der Laptops, die die junge Wissenschaftlerin brabbelnd vor sich geschart hat, klappt es mit einer seiner riesigen Pranken zusammen und deutet an, wie man rein beißt.
„Lecker“
Er strahlt über beide Backen und ich weiß, warum er sonst den Mund hält.
„Petersilie braucht man keine.“
Dafür möchte ich ihn am liebsten umarmen. Alles lacht. Der Schnaps kreist und wir hätten fast angefangen zu tanzen, wenn da nicht die junge Wissenschaftlerin wäre. Ihr ist der Laptopraub nicht entgangen. Sie reißt dem Riesen mit einer blitzschnellen Bewegung den Rechner aus den Händen. Wie sie es schafft, dabei weiterzubrabbeln und ihre Monitore im Auge zu behalten ist mir ein Rätsel. Werde ihr in Zukunft besser aus dem Weg gehen.
7.
Ben der 1. Offizier ist der einzige, der ein Wort rauskriegt:
„Verflucht!“
Den Tritt in die Eier hat er gut überwunden. Soweit ich das mitbekommen habe, hat er mittlerweile die Ersatzcrew flach gelegt. Man bekommt an Bord so einiges mit. Auch wenn es einen nicht interessiert. Ben ist noch beschränkter als sein Captain. Er ist knapp 1,90 groß und erinnert an den jungen Georg Clooney. Während seiner Ausbildung war er mit einer jungen Südstaatlerin liiert. Die beiden waren so was wie das Traumpaar der Airbase. Auf jeden Fall schien es irgendwann bei ihnen im Bett nicht mehr so recht zu klappen. Ben, der über keinerlei Talente verfügt, aber ausgesprochen zäh und fleißig ist, zog die Konsequenz:
„Liebling, ich werde hart trainieren, damit ich dir gerecht werde.“ – oder so, vermute bei Ben war kein Komma im Satz.
Ben setzte sein Vorhaben in die Tat um. Hadern ist für ihn ein Begriff aus einer anderen Galaxie. Binnen sieben Monaten hatte er mit jeder Frau im Umkreis von 30 Meilen geschlafen. So geht zumindest die Mär, auch hier vermute ich, dass nicht alles ganz wahr ist. Seine Südstaatlerin dankte ihm diesen Einsatz auf ihre Weise. Das Traumpaar wurde Vergangenheit. Ben, seines Ziels beraubt, beschränkte sich jetzt nicht mehr auf die 30-Meilen Zone. Alles was einen Rock tragen konnte, landete früher oder später in seinem Bett. So auch die Ersatzcrew. Die Russin Captain Ludmilla und die Italienerin Maria sind keineswegs Traumfrauen, aber sie haben ihre Reize. Jetzt blicken sie verwirrt auf ihren Bettgenossen. Ich sehe Maria an, dass sie losplappern will. Doch sie hält standesgemäß den Mund und überlässt Ludmilla das Reden.
„Wir gehen jetzt besser an die Arbeit,“ haucht sie mit unverkennbarem Akzent.
Ich schreibe haucht, doch das trifft nicht ganz den Punkt. Sie spricht leise, flüstert fast, aber das mit solcher Energie, dass keiner wagt, zu widersprechen. Für einen Augenblick scheint es, als sei sie der eigentlich Chef an Bord.
8.
Däne, Schwede und Inder beugen sich über die junge Wissenschaftlerin und bemühen sich ein kundiges Gesicht zu zeigen. Gebannt lauschen sie ihren Ausführungen:
„Beta-Ceeman im Gravtiationsumkehrfeld von Ignis-Sigirl. Das ist der Beweis. Ein holografisches Universum. Der Anti-De-Sitter-Raum ist bewiesen, gleichzeitig Beleg des De-Sitter-Raums wahrscheinlich. Raumzeit hat Quantecharakter – Dunklen Energie wirkt sowohl anziehend, als auch abstoßend. Der hyperbolische Raum ist damit augenscheinlich widerlegt. Expansion des Universums kann mit dem Phänomen nicht in Einklang stehen. Randall-Sundrum-Modelle müssen Paradox ausräumen....“
Während die drei Forscher ihre wissenden Mienen tapfer beibehalten und ab und an ein wissendes Raunen oder einen anerkennendes Pfeifen von sich geben, habe ich auf Durchzug geschaltet. Werde mir nachher einen von ihnen schnappen und um Übersetzung bitten. Mein Augenmerk gilt Sylvia. Sie hat sich zurückgezogen. Nur noch Captain Miller steht etwas hilflos da und scheint zu überlegen, was die Szene für seine Autorität bedeutet. Seine Augen schweifen durch den Raum und fixieren mich.
9.
„Ich muss mit Ihnen reden!“
Wenig später sitzen wir in seinem Kommandantenzimmer. Es unterscheidet sich in keinem Deut von meinem. Nur der etwas größere Bildschirm und einige Schalter weisen auf Millers Status hin.
„Ich weiß, dass sie mich verachten und für einen ziemlichen Idioten halten,“ beginnt er„und in der Tat kann ich intellektuell weder den Wasserköpfen das Wasser reichen noch Ihnen, geschweige denn diesem Monster aus Arsch, Titten und Hirn.“
In der Stimme schwingen jetzt Bewunderung und Verachtung gleichzeitig. Miller steht mitten im Raum, die Hände auf den Rücken. Wie ein großer Feldherr, der einen Schlachtplan ausheckt wandert er schwadronierend auf und ab.
„Darum geht es auch nicht! Es ist nicht meine Aufgabe mehr zu denken als unbedingt erforderlich. Ich muss diese Mission sicher zu Ende führen. Ich muss handeln, schnell handeln. Wer da zu viel denkt ist auf meinem Stuhl fehl am Platz!“
Er bleibt kurz stehen und blickt mich bedeutungsvoll an. Ich signalisiere, dass ich bisher alles verstanden habe und mich jetzt nicht durch eine blöde Bemerkung ins Abseits schießen werde. Zufrieden schreitet er weiter
„Sie wissen, dass das hier fast eine militärische Operation ist. Wir haben zwar keine Waffen dabei, aber die Mission findet mit der Unterstützung der Militärs statt. Was heißt, das wir“er deutet auf seine Brust „hier das Sagen haben. Das Gelingen einer militärischen Operation, das Wohl und Wehe jeden Feldzugs…“
Hier unterbreche ich, sonst ist mein Abend verdorben:
„Captain Miller, was wollen Sie mir sagen?“
„Ja ich weiß ihr Zivilisten habt kein Ohr für militärische Wert. Gut“ räuspert er sich.
„Es geht um Folgendes. Ich habe das Gefühl, dass der Grundkonsens unserer Mission gefährdet ist. Ja, ich glaube, dass unsere Hierarchie am Bröckeln ist. Mir als Vordersten darf ein solcher Zustand nicht egal sein. Deswegen wende ich mich an Sie. Auch wenn Sie ein Zivilist sind, so erscheinen Sie mir doch ausreichend Vernunft begabt. Was ich von Ihnen will, ist, Sie um Unterstützung bitten. Ben dieser Eier gesteuerte Kretin wird jedem Rock hinterher dackeln. Auf den kann ich nicht setzen. Die Zweitcrew ist zwar ausgewählt und sicher fachlich exzellent. Aber die eine ist Russin und die andere Italienerin. Haben Sie sich mal mit Geschichte beschäftigt. Bestimmt! Gehört doch zu Ihrem Job. Dann wird Ihnen sicher nicht entgangen sein, dass die Russen und die Italiener im Grunde ihres Herzens Kommunisten sind. Bolschewicki!“
Miller Gesicht bekommt immer mehr Farbe. Ein dünner Speichelfilm sucht den Weg aus seinem Mund nach draußen. Ich habe die Schnauze voll, doch so leicht macht es mir Miller nicht:
„Die sind doch bloß Kapitalisten geworden, um uns dann noch tiefer in die Scheiße reinzureiten. Wenn die es erstmal Schaffen unsere Mission zu ihrem Nutzen auszubeuten, dann Gnade uns Gott.“
Er lässt mir keine Chance. Ich nicke ihm anerkennend zu, bedanke mich für die Information und drücke mich an seinem heißen Atem vorbei auf den Gang. Kein Wunder, dass der Arme vollkommen überspannt ist. Noch nie war jemand so weit weg von daheim. Er will seinen Job gut machen und dreht eben ein bisschen durch. Bei so viel Druck, spinnt man schon mal. Kein Thema. Es soll nicht lange dauern, da werde ich mich über meine Sorglosigkeit wundern. Doch jetzt will ich erst mal Sylvia finden.
10.
Sylvia sitzt an ihrem Rechner. Was sie da genau macht, hab ich nie kapiert. Sie starrt Buchstabenreihen an, markiert sie und schiebt sie hin und her. Soweit ist klar. Aber wozu das Ganze? Hab sie nie gefragt. Finde es bescheuert, über den Job zu reden. Schließlich gibt es ja noch anderes. Als ich sie so konzentriert arbeiten sehe, bereue ich meine fehlende Neugier. Sie ist in ihre Arbeit vertieft. Die Außenwelt spielt keine Rolle. Das merke ich, weil sie sich mich nicht bemerkt, obwohl ich jetzt nur wenige Zentimeter neben ihr stehe. Ich ärgere mich darüber, dass ich so leise an sie ran getreten bin. Jetzt wirkt es so als hätte ich mich angeschlichen. Dabei wollte ich sie nur nicht stören. Verrat mir mal einer, wie da wieder rauskommen. Räuspern? Sie laut ansprechen? Zurück gehen und noch mal zu ihr gehen?
„Glotz nicht so blöd auf den Bildschirm, Al!“
Sylvia hat für alles eine Lösung! Ich könnte sie umarmen. Stattdessen glotz ich sie an,
„Das sind die Signale, die wir seit 3 Wochen empfangen,“ klärt sie mich auf. „ich kann machen was ich will. Ich krieg es nicht raus. Dabei weiß ich, dass da eine Regelmäßigkeit drin ist. Ein Code! Eine Sprache. Sobald ich den Schirm anschalte erkenne ich es. Ich fang an systematisch vorzugehen und alles verschwindet. Ich sitze Stunde um Stunde davor. Doch der erste Eindruck kehrt nicht zurück. Nur irgendwelche Buchstaben oder Zahlen. Ich hab beides versucht. Dann dreh ich den Rücken, mach etwas anderes. Entferne mich. Setze sozusagen meine Kryptografie auf Null und sobald ich den Monitor betrachte, ist das Muster klar vor meinen Augen. So geht es jetzt seit drei Wochen und ich bin kein bisschen weiter gekommen. Jetzt das da draußen. Es muss da einen Zusammenhang geben.“
„Heißt das, dass du keine Dolmetscherin bist?“
„Doch, auch! Aber ich bin auch gleichzeitig Kryptografin. War mein Hobby. Bisher. Jetzt ist es meine Mitflugberechtigung.“
„Warum weiß ich nichts davon?“
„Geht dich anscheinend nichts an.“
Sie grinst.
„Ist aber egal. Außerdem hast du nie gefragt. Dabei sagte man mir du seiest Journalist.“
„So ungefähr, aber ich kann Fragen nicht leiden,“ platzt es mir raus.
„Zumindest, wenn sie mir gestellt werden.“
Natürlich bereue ich das sofort, denn Sylvia dürfte mich schon fragen. Sie würde schon keine blöden Fragen stellen. Denke ich mal.
„Na so interessant bist du nu wieder auch nicht,“
schnippt sie zurück. Das sitzt. Auch wenn ich weiß, dass Sylvia schnell frech wird.
„Ok! Friede ja? Warum fragst du nicht die durch geknallte Miss Germany?“
„Bloß nicht. Die bringt es fertig und entschlüsselt das ganze in Nullkommanix. Das wäre nicht gut für mein Ego. Nee, das muss ich alleine regeln. – Außerdem trau ich ihr nicht.“
Ich weiß, was sie meint. Normalerweise würde ich ja denken, typisch Frauen. Die müssen sich halt beharken, wo´s nur geht. Aber bei der Deutschen funktionieren klassische Verhaltensmuster nicht. Die ist wie ein Wesen aus einem anderen Stern. Manchmal denke ich, sie ist so was wie ein Cyborg oder Roboter. Wie aus Alien 1. Doch dafür ist unsere Technik nun wirklich nicht weit genug. Außerdem umgibt sie eine merkwürdige Art von Aura. Als sei sie nicht anwesend. Wenn sie dich anschaut, dann blickt sie einfach in dich hinein und durch. So als seiest du ein Insekt oder so was.
„Manchmal denke ich sie existiert gar nicht,“ fährt Sylvia fort.
„Klar sie ist sicher nur ein Hologramm,“ antworte ich „dass uns die Auftraggeber mitgeschickt haben“ ich grinse sie an.
Ein bisschen stolz bin ich schon auf diese Idee; schließlich musst du da erst mal drauf kommen. Währen ich also vor mich hingrinse, zeigt Sylvia wieder mal, dass sie mir weit überlegen ist:
„Hologramm, ja das habe ich auch schon gedacht. Nur glaub ich nicht, dass sie irgendjemand geschickt hat.“
11.
„Stimmt! Ich bin aus freien Stücken hier! Sie doch wohl auch?“
Ein heißer Pfeil trifft mein Herz – keine Angst, ist bildlich gemeint. Es ist blöd, erwischt zu werden und ich weiß nicht, wie lange Miss Hirn schon neben uns steht.
„Schau mal!“ versucht Sylvia die Situation zu retten und zeigt auf die Buchstabenkolonnen.
„Kannst du etwas damit anfangen?“
Die Deutsche beugt sich keinen Millimeter vor. Stattdessen verengen sich ihre Augen kaum merklich.
„Es ist ein Code, das ist klar! Doch kann ich mich damit nicht beschäftigen. Deswegen bist du an Bord.“
Sie wartet erst gar nicht auf eine Antwort, sondern verschwindet so lautlos wie sie eingetreten ist.
„Shit! Ob sie was mitbekommen hat?“
„Keine Ahnung! Und wenn, was macht das für einen Unterschied?“
Sylvia hat Recht. Tausendschönchen ist zwar durchgeknallt, aber nicht blöd. Sie weiß sicher, dass die ganze Bande hinter ihrem Rücken lästert.
„Sie müssen aufpassen!“
Der Inder gibt sich sein Stelldichein. Behutsam schiebt er sein Bäuchlein an mir vorbei und rollt mit den Augen. Ich kann das Weiße sehen. Nicht sehr appetitlich. Das macht er immer. Ohne dass es eine Zusammenhang zu den äußeren Umständen gibt, noch zu seinem Gemütszustand. Ich vermute, dass es eine Art Uhr ist. Kann das aber nicht belegen.
„Wissen Sie eigentlich, welchen Einfluss unser Genie hat?“
Wir schauen ihn an.
„Um ehrlich zu sein, ich auch nicht. Ich weiß nur, dass ich nicht bei dieser Mission dabei wäre, wenn sie es nicht gewünscht hätte. Es stimmt sicher, dass ich ein exzellenter Astrophysiker bin. Ohne Frage einer der Besten weltweit. Doch nur einer der besten. Es gibt einige, die mir das Wasser reichen können. Vielleicht sogar den ein oder anderen, der mir überlegen ist. Da stellt sich doch die Frage, warum gerade ich dabei bin. Ich habe nachgeforscht. Nicht einfach in dieser Szene, in der jeder jeden kennt. Aber bei ihren Qualitäten,“ hier macht er ein lüsternes Gesicht und zeichnet mit dem Mittel- und Zeigefinger seiner rechten Hand eine weibliche Silhouette in die Luft, „ist es nicht schwer zu raten. Das habe ich getan. Und siehe da, es gibt praktisch keinen aus dem Besetzungskomitee, der nicht mit ihr geschlafen hat. Woher ich das weiß? Nun, auch ich habe meine Geheimnisse. Aber ist auch egal. Die Frage nach dem „Warum gerade ich oder Ihr?“ hat das nicht beantwortet. Wir wissen nur, sie setzt ihre Wünsche durch.“
„Darüber habe ich mir auch meine Gedanken gemacht. Ich meine, die Kryptographie ist mein Hobby. Ich bin Übersetzerin. Was mache ich im All? Aber dann hab ich es schnell aufgegeben. Ich meine, wenn dich jemand fragt, willst du auf eine Expedition ins Universum, dann fragst du doch nicht lange warum?“
Das geht an mich. Gut – ich bin von Anfang an dabei. Habe die Schwerkraftmessung bei Braunschweig besucht und dort auch gefilmt. Dann noch ein paar Fachartikel, ein paar Fotos. Alles in allem ein gutes Geschäft. Konnte mich sogar ein bisschen auf den Lorbeeren ausruhen. Das war ganz gut. Schließlich bin ich noch nicht so lange dabei. Eigentlich bin ich Mediziner. Spezialisiert auf den Tod. Ich arbeitete von Anfang an in der Forensik. Anderen Menschen das Leben retten ist nicht so mein Ding. Da läuft zu viel schief. Sind sie aber Tod, kannst du Mist bauen ohne Ende. Da kräht kein Hahn nach. So begründete ich Freunden gegenüber meine Wahl. Diese nickten und schwiegen. Wenn ich ehrlich bin, war ich richtig gut in meinem nekrophilen Job. Doch eines Tages ging es nicht mehr. Ich konnte den Geruch des Formalins nicht ertragen. Die kalten Körper. Andere saufen sich in dieser Situation zu Tode. Ich wurde Schreiberling.
„Als ich erfuhr, dass diese Expedition geplant war habe ich mich darum bemüht, Teil zu nehmen. Ich glaub, ich hab fast eine Tonne Papier voll geschrieben. Könnt ihr alles nachlesen!“ rechtfertige ich mich.
Diesmal verdreht Sylvia die Augen. Nicht so kunstvoll wie der Inder. Der verschont mich dagegen. Stattdessen zeigen seine Augen einen mitleidigen Ausdruck. Ich gebe mich geschlagen:
„Ich hab keine Ahnung, warum ich dabei bin. Aber spielt das denn eine Rolle? Sagt mir liebe mal, was wir da draußen gesehen haben. Keine Spiegeleinummer bitte.“
12.
Eine Welle von Alkoholdunst schwingt in den Raum.
„Es sind zwei Sterne, keine besonders Großen. Etwa so wie unsere Sonne. Das macht sie so außergewöhnlich, denn eigentlich könnte der vor einigen Monaten gemessene Gravitationssprung nicht von ihnen stammen. Doch alle Messungen deuten genau auf diesen Ort als Ursprung.“
Der schwedische Kampftrinker hat sich zu uns gesellt.
„Benutzen wir die bisherige Physik, so können es also nicht die beiden Sterne da draußen sein. Bleibt also nur dieses Zeug, was sich zwischen ihnen ausbreitet, das Eiweiß um im Bild unseres schweigsamen Kollegen zu bleiben. Doch wenn wir ehrlich sind, dann weiß zur Zeit noch nicht mal unsere kluge Blondine, was hier wirklich vor sich geht. Aber sie ist nah dran und ich bin ihr auf den Fersen.“
Er grinst verschlagen und wischt sich den Sabber aus dem Mundwinkel. Der Gedanke ihr ebenbürtig zu sein scheint ihm zu gefallen.
„Warum bist du dabei?“ fragt Sylvia.
„Weil sie es nicht verhindern konnte!“
Svende greift in seine Jackentasche und nimmt einen kurzen Schluck.
„Anders als ihr bin ich nicht von ihr ausgewählt worden. Ich habe selbst entschieden, an Bord zu sein.“
„Und was ist mit der Crew?“
„Glaubt ihr wirklich, sie beschäftigt sich mit der Crew. Das ist ihr schnuppe. Die Crew ist die Schale der Nuss. Wir sind die Frucht. Ihr alle habt etwas, was sie braucht und ich habe etwas, was sie fürchtet.“
Langsam glaube ich, der verwachsene Schwede ist ein bisschen größenwahnsinnig oder hat zu tief in seinen Selbstgebrannten geschaut. Doch seine Augen sind klar.
„Wir alle stehen in Verbindung mit einem Ereignis, dass vor etwa zehn Jahren stattfand, ihr werdet das noch früh genug herauskriegen“ orakelt er.
Der Inder ergreift jetzt die Initiative
„Wenn du meinst, du könntest vor ihr erfahren, was hier los ist, dann wird es Zeit, dass wir ein bisschen arbeiten.“
Als die beiden den Raum verlassen haben dreht Sylvia die Lüftung auf Vollgas.
„Was hältst du von der ganzen Sache?“
„Keine Ahnung! Eben war ich bei unserem Captain. Der schwafelt mir was vor von einer Verschwörung der Russen oder was weiß ich wem. Jetzt das hier.“
„Genau darüber wollte ich gleich mit Ben sprechen.“
Mir werden die Knie weich und mein Kopf wird von einem unvorstellbaren Vakuum erfüllt. Vor mir ist die tollste Frau, die ich kenne und sie hat ein Rendezvous mit diesem Frauen verschlingenden Cretin. Diesem durchtrainierten Schönling. Diesem hirnlosen Was-weiß-ich. Mein Hirn ist nur noch leer, mir wird schwarz vor Augen und ich taumele kommentarlos aus dem Raum. Das ist zu viel. Auf meinem Weg durch den Flur stoße ich gegen eine Wand. Es ist der Däne, dessen Blick mir sagt, dass er bereit ist, meinen Kummer zu teilen.
13.
„Weißt du, ich hab Frauen auch nie verstanden!“
Seine Eröffnung lässt mich nicht grade hoffen. Doch was soll´s, er hat zwei große Gläser mit Aquavit gefüllt und mir ist nach Alkohol. Er schaut mich aufmerksam an, schweigt. Offensichtlich wartet er darauf, dass ich mich ausweine.
„Na ja, trotzdem sind sie doch auch menschliche Wesen. Außerdem ist Sylvia nicht blöd. Wieso redet sie dann mit diesem Idioten? Ich meine, außer von dem, was sie ihm bei der Air Force beigebracht haben, hat der doch von nix eine Ahnung.“
Smerg lächelt traurig,
„Ich weiß ihr haltet mich für einen verschrobenen Idioten, der zwar von Astronomie was versteht, der aber ansonsten vollkommen verblödet ist. Doch ich hab Augen, Ohren und kann kochen.“
Jetzt lacht er kurz und nimmt einen Schluck aus seinem Glas. Nein blöd ist er nicht.
„Was ich sehe und wahrnehme ist ganz einfach, dass sich die beiden irgendwoher kennen!“
Ich starre ihn an.
„Das kann ja wohl kaum sein. Ich kenne zwar beide erst, seitdem wir uns im Trainingszentrum getroffen haben, aber aus ihren Akten geht hervor, dass es keinen Ort gibt, an dem beide gemeinsam gewesen sein könnten.“
„Nein du verstehst mich nicht! Es geht nicht um ihre jetzige Existenz. Glaubst du an Wiedergeburt?“
„Keine Ahnung. Wenn es so was gibt, würde es mich nicht stören, denke ich.“
„Ich weiß auch nicht, ob es so was gibt, aber wenn, dann würde das diese Verbindung zwischen Sylvia und unserem Copiloten erklären.“
Ich versuche dem Gedanken des Dänen zu folgen, doch es fällt mir schwer damit etwas anzufangen. Smerg sieht das wohl ein, denn er wechselt das Thema:
„Hat dir unser schwedischer Kollege etwas über seine Sicht der Dinge erzählt?“
„Na ja er sagte, dass sie uns braucht und ihn fürchtet.“
„Kann schon sein. Weiß zwar nicht, wofür sie uns braucht, aber ihn würde ich auch fürchten.“
„Svende?“
Ich bin ein bisschen baff. Was sollte an dem verwachsenen Kampftrinker gefährlich sein? Gut er hat seinen Selbstgebrannten, aber den trinkt er meist selbst.
„Mann, ich glaube der hat zuviel von seinem Zeug getrunken.“
„Selbst wenn Svende seine ganzen Vorräte binnen einer Stunde leeren würde, wäre er nüchterner als du oder ich. Soll ich dir mal ein bisschen was über unseren schwedischen Kampftrinker erzählen? Ich hol ein bisschen aus, aber keine Angst. Anders als bei den Spiegeleiern werde ich mich kurz fassen. Muss trotzdem ein bisschen ausholen, Als ich neun war, schickten mich meine Eltern zu einem Mathematikwettbewerb. Ich war schon als Dreijähriger aufgefallen, weil ich zwar nur undeutlich reden konnte, dafür aber das mathematische Verständnis eines Abiturienten hatte. Ich war so was wie ein Wunderkind. Mit neun also dieser Wettbewerb. Ich hatte mich riesig darauf gefreut, denn es gab nichts, was mich sonst reizte. Klar ich bin musikalisch und hätte sicher als Virtuose Karriere machen können. – Schau nicht so angewidert, das ist keine Angeberei.“
Smergs riesige Hand greift nach dem Aquavit.
„Dummerweise bin ich gewachsen wie ein Hefezopf im Ofen. Violine, Violincello, Bratsche… All diese wunderbaren Instrumente zerrannen in meinen Pranken.“
Klar, an dieser Stelle muss er die Hände in die Höhe heben. Stellt sich so zwischendurch die Frage, wer wollte sich eigentlich ausheulen?
„Du kommst auch noch dran. Es geht um Svende. Also zurück zum Wettbewerb. Es ging grob darum, verschiedene mathematische Aufgaben zu lösen. Und ich schaffte sie alle. Mit Bravour! Es war sensationell. Meine Eltern freuten sich, die Jury freute sich – in diesem Jahr waren lauter Dänen dabei – ich hatte die besten Ergebnisse seit Beginn des Wettbewerbs. Dann kam dieser kleine Schwede. Er war genauso alt wie ich. Seine Familie begleitete ihn. Lauter Hinterwäldler. Grob, bärtig, ungewaschen. Sie stanken nach Alkohol und alter Wäsche. Wie aus einem Monthy Pyton Film – nur echt. Ich erinnere mich noch, wie ich gluckste vor Lachen, als diese Schiessbudenfiguren das Feld betraten. Danach hat mich der kleine Svende nass gemacht. Zwischen uns sind Welten. Es ist so, als ob der FC Barcelona auf eine Thekenelf trifft. Ich war fertig mit der Welt. Egal, wie sehr ich mich anstrengen würde, ich würde immer die Nummer zwei bleiben.“
„Naja, ist ja auch nicht so schlecht. Immerhin kannst du Spiegeleier kochen!“
versuchte ich zu trösten.
„Du hast Recht! Aber es dauerte Jahre, bis ich das Rezept im Griff hatte. Mittlerweile bin ich tatsächlich der Ansicht, dass ein gelungenes Rührei ebenso wertvoll ist wie eine gelöste Formel. Nee, ich hab meinen Frieden geschlossen. Lass mich noch Svendes Geschichte zu Ende erzählen. Mit 16 hatte er mehrere Professuren an der Uni Kopenhagen und Gastprofessuren rund um die Welt, wie er all das geregelt bekam, ist mir ein Rätsel. Naja, so wie er drauf war, brauchte er natürlich nichts vorzubereiten. Er stellte sich einfach hin und löste Gleichungen, dozierte und trank Unmengen vom familiären Selbstgebrannten. Am Ende hat es ihn dann wohl zerrissen. Schließlich brachte er es nicht zustande, irgendetwas Großes zu formulieren. Er war zu einem Clown der Wissenschaft geworden, als er plötzlich von der Bildfläche verschwand. Ich hab dann nie wieder von ihm gehört. Bis kurz nach diesen seltsamen Ereignissen vor gut sechs Jahren.“
Ja ich erinnere mich. Damals lag eine steile Karriere in der Reykjaviker Forensik vor mir. Es war eigentlich ein Tag wie jeder andere, als plötzlich massenhaft Leichen in meinen Untersuchungsraum gekarrt wurden.
14.
So liebe Leserin, jetzt kommt bald ein kleiner Einschub, der geeignet sein könnte, einige der handelnden Personen ein bisschen besser zu verstehen. Anders als in der bisherigen Schilderung greife ich hier jedoch nicht ausschließlich auf meine eigenen Erlebnisse zurück. Die Zeit und mein späterer Beruf als Journalist gaben mir die Gelegenheit, die Ereignisse an jenem Tag in Bruchstücken zu rekonstruieren. Schon damals ahnte ich, dass das Notierte nur als Teil eines größeren Ganzen funktionieren würde, doch was sollte dies sein. Ich wusste es nicht und auch heute, während ich diese Zeilen schreibe bin ich mir unsicher. Nur eines scheint klar, so weit weg von daheim dämmert mir benebelt vom Aquavit des Dänen, dass vieles von damals und heute zusammengehören muss. Es wäre also gemein, das alles für sich zu behalten. Muss nur noch auf der Festplatte meines Laptops suchen. Ein klein wenig Geduld also. Ist nicht so leicht, wenn man belämmert ist. Da ist sie schon! Der große Däne beginnt zu lesen:
15. „Die bunte Geschichte“
Seine Augen wandern über den Bildschirm. Da war doch was! Er hat es genau gesehen. Während der armselige Schauspieler auf der anderen Seite der Mattscheibe verzweifelt versucht, den Bösen zu entkommen bewegt sich der Kopf des Fernsehzuschauers immer näher an das Glas. Dann wandert er seitlich. Der Schauspieler fliegt auf die Fresse. So hat er keine Chance, denkt der Betrachter und im gleichen Augenblick sieht er den kleinen Punkt Fliegendreck, der ihm den reinen Fernsehgenuss verwehrt hat. Zufrieden sieht er, wie sich der Schauspieler wieder aufrappelt und weiter rennt. Dicht gefolgt von den Ganoven. Er spuckt kurz auf seinen Zeigefinger und beginnt zu reiben.
Was kann ich dafür? Ihr Kopf wirbelt herum. Sie sieht ihm beim Rasieren zu. Er scheint in sich versunken. Mit den Gedanken Lichtjahre von der Wirklichkeit entfernt. Tatsächlich konzentriert er sich darauf, die empfindliche Haut über seinem Kehlkopf nicht zu zerfetzen. Vorsichtig streicht die Rasierklinge durch den Schaum. Du weißt genau, dass wir diesen Termin nicht verpatzen dürfen! Es ist zu wichtig! Sie ist immer noch aufgeregt. Natürlich weiß sie, dass sie Mist gebaut hat. Das Treffen mit den Van der Saars gerade auf heute zu legen. Aber wie konnte sie wissen, dass gerade heute das Europacupendspiel ist. Und er als einer der letzen Karten dafür ergattert hat. Der blöde Idiot. Sonst macht er sich doch nicht so viel aus Fußball. Der Idiot spült gerade die Rasierklinge aus, um wieder ansetzen zu können. Bis jetzt ist alles gut gegangen. Die Karten hat er einem Kollegen gegeben. Was soll´s? Er hasst sowieso Massenaufläufe. Aber soll sie ruhig ein bisschen schmoren. Und sie schmort. Hat Angst, dass heute alles in die Hose gehen wird. Was heißt Angst. Sie weiß, dass sie das Treffen verkorksen werden. Dabei geht es doch um so viel! Die Klinge nähert sich dem letzten Rest Schaum, taucht sanft ein und findet einen unerwarteten Widerstand in Form einer Hautunebenheit. Doch sie ist scharf wie das Beil eines Henkers und löst den Fall. Das Blut färbt den Schaum rot. Er flucht innerlich; rasiert weiter. Als er fertig ist, legt er das Rasiermesser beiseite, benetzt sein Gesicht mit heißem Wasser und betrachtet im Spiegel, wie aus der jungfräulichen Wunde erneut Blut fließt. Er greift zum Handtuch, steckt den Ziegefinger so hinein, dass sich der Stoff um die Kuppe spannt und beginnt an der verletzten Stelle zu tupfen.
Es ist ein Scheißtag. Nach einer langen Nacht musste ich um 6 Uhr früh zum Dienst. Normalerweise ist das kein Problem. Doch heute hat sich das Schicksal gegen mich verschworen. Ich bin jetzt schon 14 Stunden auf den Beinen und noch immer ist kein Ende in Sicht. Es hat Unfälle gegeben gestern Nacht. Mehr als je zuvor. Seit Dienstbeginn schleppen die Sanitäter, Zivis und was sonst noch im Klinikum rum springt immer wieder neues Material für mich an. Alles nichts Besonderes; verletzt, verstümmelt, zermatscht. Doch was sie jetzt auf meinen desinfizierten Edelstahltisch legen, hab ich noch nicht gesehen. Es ist ein länglicher Klumpen aus Fleisch, Knochen und Blut; eingewickelt in die übliche Leichentüte aus halbtransparenter Folie. Ich blicke fragend auf. Sind zwei! sagt der eine der beiden Sanitäter ungerührt und sie verlassen den Raum ohne Gruß. Wozu auch? Sie werden ja gleich wieder kommen. Das erste Mal seit dem ich den Job hier begonnen hab, ist mir ein bisschen schlecht. Ich greife nach den Papieren. Ein Mann und eine Frau. Sie müssen sich gegenüber gestanden haben, als die beiden Busse frontal aufeinander prallten. Linie 17 hat die Frau in den Mann geschoben. Oder Linie 23 den Mann in die Frau. Oder umgekehrt. Hier sind die Aufzeichnungen der Beamten nicht so genau. Auf meinem Tisch liegen also zwei Menschen, die von zwei Bussen in einander gepresst wurden. So gut, dass sie jetzt gemeinsam auf meinem Edelstahltisch Platz haben. Das ist, was bleibt. Ich öffne den Reißverschluss und begutachte die Sauerei. Meine Hand greift zur Pinzette und nähert sich dem zerstörten Gewebe.
Sie schaut noch mal nach. Hatte sie wirklich an alles gedacht? Sie muss lächeln bei diesem kindischen Gedanken. Schließlich hat sie die Formel schon dreiundvierzig Mal kontrolliert und nie auch nur einen Fehler registriert. Trotzdem wandert ihr Blick durch den Raum. Es ist ein großer alter Seminarsaal mit Tafeln, die über drei der Wände reichen. Die Tafeln sind ausziehbar und erreichen so eine Höhe von fast zwei Metern. Fast jeder Quadratzentimeter ist bedeckt mit Kreide. Jetzt in den Semesterferien hatte sie Zeit, um ihre Idee von der Aufhebung der Gravitation zu prüfen. Und sie hat sie genutzt. Warum auch nicht? Obwohl sich praktisch jeder Student nach ihr umdreht und vor Sehnsucht zerfliest, hat sie keinen Freund. Es ist ihr zuwider mit anderen Menschen zusammen zu sein. Nur hier in der Stille des alten Seminarraums des Geophysikalischen Instituts fühlt sie sich wohl. Gemeinsam mit ihren Formeln. Die ihr jetzt nach zwei Monaten des rastlosen Rechnens, des zweifelfreien Beweisens und der zweifelhaften Nachstellungen des schwedischen Hausmeisters so vertraut vorkommen, wie ihre eigene Familie. Sie schaut sie zärtlich an. Für einen kurzen Moment durchströmt sie ein ungeheurer Schauer des Glücks und die Kreide beginnt auf dem Schiefer zu kratzen.
Ben Walder ist mit sich zufrieden. Gerade ist er zum zweiten Mal gestürzt und hat sich nicht verletzt. Hat er doch gewusst, dass es klappen würde. Wie oft hat er darauf bestanden, dass er kein Double braucht. Jetzt endlich ließen sie ihn. Er fühlt sich wie der große Belmondo und genauso wie dieser in „Außer Atem“ rennt er um sein Leben. Zumindest soll es so aussehen. Schließlich ist er auf dem großen Sprung zum echten Star. Berlin, Paris, Hollywood! Sie werden sich um ihn reißen. Er unterdrückt das Grinsen und schaut sich stattdessen gepeinigt um. Sie sind immer noch hinter ihm. Gut! Diese Szene muss er wohl nicht wiederholen. Alles läuft zu gut. Er wendet den Kopf wieder nach vorne. Es wird das letzte sein, was er in seinem Leben zu Ende bringt.
Der Finger, den er noch vor kurzem mit Spucke eingedeckt hat versinkt in der Bildröhre. Er sieht, wie er über der Verfolgungsszene schwebt. Das ist unglaublich! schießt es ihm durch den Kopf und er reißt die Hand vom Bildschirm weg. Betrachtet sie. Dann berührt er wieder das Glas. Stößt hindurch und bewegt den Finger hin und her. Dunkel schwebt die Kuppe über der Szene. Er ist nicht dumm. Abi, Studium. Alles kein Problem. Auch das hier übersteigt seine Vorstellungskraft nicht weiter. Er kann also mit seinem Finger in die Szene eingreifen. Na und! Es gibt schlimmeres. Langsam ergreift ein primitiver und gemeiner Plan sein Hirn. Die Gedanken formen sich von selbst. Diesen Ben Walder konnte er noch nie ausstehen. Was wäre wenn? Langsam nähert sich sein Finger der winzigen Gestalt, die für viele die Hoffnung des Deutschen Kinos darstellt.
Ihr Gehirn ist wie besoffen, dabei waren es nur zwei Gläschen Sekt und der wunderbare Barolo zum Essen. War doch alles gar nicht so schlimm. Er hat gut mitgespielt. Jetzt haben sie die Van der Saars in der Tasche. Morgen werden sie zum Notar gehen und alles festzurren. Sie werden bald Eigentümer eines 200 Quadratmeter-Hauses mit Garten und Balkon sein, dass sie nur die Hälfte des Marktwertes kosten wird. Was macht es da, dass er Gedanken verloren vor der Auslage des HiFi-Ladens stehen bleibt und mit dem blöden Blick eines beschränkten Kindes die Stereoanlagen betrachtet. Sie ist fast zwanzig Meter vor ihm und im Begriff, die Straße zu überqueren, als sein Handy piept. Er greift in seine Hosentasche und blickt auf die angekommene SMS: 0:4. Diesem Elend ist er also entkommen. Grinsend schließt er zu ihr auf.
Der Busfahrer der Linie 23 kann nicht ahnen, dass an diesem Abend die Gesetze der Physik anders sind, als gewohnt. Sein Bus ist leer und er will nur nach hause. Ein, zwei Bier trinken und sich die Zusammenfassung des Europacupfinales anschauen. Etwa zwei Kilometer weiter, in der entgegenkommenden Linie 17 sitzen ein paar Besoffene. Sie kommen vom Spiel und trauern um den verpatzten Erfolg. Irgendein Trottel hatte ihnen die Karten vermacht. Momentan kann sich keiner daran erinnern, wer es war. Doch sie verfluchen ihn. Die Schlappe war doch zu derb und wegen dieses Idioten waren sie dabei. Gedemütigt von diesen Italienern. Auch sie können nicht wissen, dass nach dem 0:4 alles anders sein wird.
Egal wie viel ein Mensch weiß. Es gibt immer einen Punkt, an dem er ahnungslos da steht und von der Wirklichkeit überrollt wird. So ergeht es der jungen Wissenschaftlerin, als sie den letzen Kreidestrich an ihre Formel setzt. Wenn einer ihrer Kollegen oder der schwedische Hausmeister sie gesehen hätte, dann hätte er sicher gedacht, sie ist auf einem Drogentrip. So entrückt sieht sie aus. Doch sie hat keine Zeit den Moment länger als einen Augenschlag zu genießen. Der Moment trifft sie unvorbereitet. Schließlich gehört es zu den menschlichen Erfahrungen, dass Wissen sich nicht sofort umsetzt. Es braucht immer eine zweite Instanz, die aus dem Wissen Wirklichkeit werden lässt. Doch heute ist es anders. Kaum hat sie die Kreide von der Tafel gezogen, geraten die Dinge aus den Fugen.
Ben Walder kann nicht mal mehr dämlich drein schauen, so schnell rast diese seltsame Masse Fleisch auf ihn zu. Wo kommt Gott verdammt noch mal der Finger her? wollen seine Gedanken noch bilden, als es schon zu spät ist.
Er hätte nicht gedacht, dass es so einfach sein würde. Natürlich fühlt er sich nicht als Mörder. Schließlich ist das ja nur ein Film und wenn da jemand mal ein bisschen im Drehbuch rum pfuscht, dann wird das nicht gleich die Welt aus den Fugen heben. Dummerweise ist gerade das der Fall. Als er sich nach seinem Bier umdreht, um den Moment zu genießen muss er feststellen, dass er nicht mehr vor dem Fernseher ist. Er ist auch nicht mehr in seiner Wohnung. Etwas Weiches ist unter ihm. Es ist das linke Bein des Busfahrers der Linie 23 auf dessen Schoß er jetzt sitzt und dem er die Sicht versperrt. Allerdings ist das eigentlich auch egal. Niemand könnte etwas mit dem Gesehenen anfangen. Zu sehr unterscheidet es sich von bisher Gesehenem. Alles ist durcheinander. Zeit, Raum, Licht und Masse sind eine kryptisch pulsierendes Etwas. Ein Wink des Schicksals hat nur vor ein paar Dingen halt gemacht. Dazu gehören die Linie 17 und die Linie 23, die mit den auf dieser Straße erlaubten 70 km/h aufeinander zu rasen.
Sie schaut ihn fragend an. Wer war das? In ihr wächst ein winziger Keim Gift. Gegen ihre Eifersucht konnte sie noch nie etwas unternehmen und heute wird sie keine Gelegenheit mehr bekommen. Sie stehen sich gegenüber und auch er hat keine Zeit mehr seinem Leben jetzt noch eine bedeutende Wendung zu geben. Das übernehmen die beiden Busse der Städtischen Fahrbetriebe. Schon nach 13 Mikrosekunden platzen ihre ersten Zellen durch den Druck. Nach 27 Mikrosekunden beginnen die Körperflüssigkeiten damit sich zu vermengen. Noch vor kurzem war es das, was sie an dem Idioten so attraktiv fand. Heute ist das anders. Irgendwo bricht der erst Knochen. Zuerst sind es zwei Bruchstücke, dann weitere 12 Mikrosekunden später ist es ein einziger Salat. Da Gedanken in so einer Situation besonders schnell sind, haben beide noch Gelegenheit, aus den Augenwinkeln eine junge und aufstrebende Physikerin neben sich zu sehen. Beide meinen, sie habe die Schultern wie zu einer Entschuldigung hochgezogen. Dann wird es doch dunkel.
Irgendetwas stimmt hier nicht. Ich greife noch mal zu den Papieren. Zwei Personen. Eine weiblich, eine männlich. Ich beuge mich wieder über den Edelstahltisch. Am Rand liegen fein säuberlich neben einander die Gliederknochen der Finger. Ich zähle noch mal. Es sind mehr als zwanzig. Mein Hirn kombiniert jetzt Messerscharf. Die Sauerei auf meinem Edelstahltisch stammt von mehr als zwei Personen.
Natürlich ist ein Augenblick der Erkenntnis durch nichts aufzuwiegen, doch in diesem Moment würde sie gerne darauf verzichten und sehnt sich das erste Mal in ihrem jungen Forscherleben nach dem dümmlichen Geschwätz ihrer Altersgenossen. Sie will nur weg, denn sie weiß, sie hat einen bösen Fehler gemacht. Auch hier erlaubt sich das Schicksal einen jener wundervollen Zufälle zu kreieren, die für manchen an ein Wunder grenzen. Für die junge Wissenschaftlerin ist es eher Pech. Sie landet zwischen Linie 17 und 23.
Von all diesen Ereignissen bleibt nur einer verschont: Svende Hergenson ist schon wieder so weit, dass er Wahrnehmung und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden kann. Und somit irgendwie sowieso immun ist gegen eine Veränderung der Realität. Unten im Keller des geophysikalischen Instituts brennt er seinen eigenen Schnaps. Hochprozentiges musst du selber produzieren! hatte ihm sein Vater mit auf den Weg gegeben. Svende Hergenson stammt aus einem alten schwedischen Geschlecht von Hardcore-Trinkern. Schon zu Zeiten der Wikinger waren seine Vorfahren fürs Schnapsbrennen zuständig. Svende setzt diese Tradition einfach nur fort. Hochintelligent, talentiert und motiviert hat er sich vor Jahren den Naturwissenschaften gewidmet. Doch dann haben ihn sein Erbgut und ein paar andere unglückliche Ereignisse davon überzeugt, dass er es seinen Ahnen gleichtun sollte und er wurde Hausmeister. Als er jetzt den Seminarsaal betritt, um der schönen Physikerin zu begegnen, ist er so blau, dass es fast zwei Minuten dauert, bis er feststellt, dass sie nicht mehr da ist. Wankend betrachtet er die Tafeln. Irgendetwas in seinem Alkohol getränkten Hirn signalisiert erkennen. Er blinzelt. Dieses Luder hatte wirklich Talent. Das muss man schon sagen. Während seine Augen die einzelnen Tafeln überfliegen, fliegt er der Länge nach auf die Schnauze. Nie zu lange stehen bleiben, wenn du getankt hast. Er rappelt sich hoch und auf ein Mal überkommt ihn Wut. Wut auf sein verkorkstes Leben aus Alkohol und Einsamkeit. Wut auf all die ignoranten Gelehrten, die ihm einst den Schneid abkauften. Wut auf diese junge Schlampe, die – und das weiß er ohne lange nachzudenken – schon jetzt weiter ist, als er je gekommen wäre. Er greift sich den Schwamm und beginnt zu wischen.
Aus dem Chaos werden in der Erinnerung nach und nach ganz normale Unfälle und nur wenige wundern sich über die irren Geschichten, die manche Zeugen berichten. Auch mich kümmert es nicht. Ich habe meinen Job getan. Vor mir liegen jetzt drei Kunststoffsäcke. Jeweils gefüllt mit den Überresten von nur einer Person. Ich bin mir sicher, dass das niemand sonst geschafft hätte. Denn ich weiß: ich bin der Beste.
Svende Hergenson kann nicht wissen, dass er gerade die Welt gerettet hat. Genau fünf Minuten und 13 Sekunden nachdem die junge Physikerin die Weltformel – ein anderer Begriff wäre wohl unpassend – zu Ende gebracht hat, sind die Tafeln wieder so blank wie vor zwei Monaten. Der schwedische Hausmeister liegt schnarchend unter dem Pult und rührt sich nicht mehr. Tief in seinem Hirn arbeitet es jedoch. Die ersten Neuronen bilden sich neu. Bruchstücke der Formel erscheinen im frontalen Cortex, werden wieder zusammen gefügt, nehmen Form an. Es ist nichts verloren. Im Stammhirn bereiten sich die Zellen darauf vor, einen diffusen Rachegedanken zu formulieren. Er, Svende Hergenson wird sich nicht von so einer Tusse ausboten lassen. Gleich morgen wird er mit dem Saufen aufhören, na gut es reduzieren und dann eines Tages…
16.
„Jetzt wird dir wohl klar, dass ich nicht vollkommen ahnungslos bin.“
Ich lalle ein bisschen, während ich Smerg die letzten Worte lesen sehe. Stolz und besoffen griene ich ihn an.
„Damit ist wahrscheinlich auch klar, warum du überhaupt dabei bist,“ entgegnet der Däne ruhig.
Anders als bei mir merkt man nichts davon, dass er zwei Wassergläser Aquavit intus hat.
„Wie bist du an all diese Informationen gekommen. Ich mein diese ganzen Menschen, die darin vorkommen sind die echt?“
Meine Hand umklammert die Aquavitflasche und ich versuche den Schnaps gerecht zu verteilen.
„Eigentlich hab ich mir nie Gedanken darüber gemacht, wie ich an die Geschichte gekommen bin,“ entgegne ich nach erfolgreicher Operation. „Sicher einige Fakten und Orte konnte ich schon ausfindig machen. So waren ja viele der Namen der Toten und Verletzten bekannt. Das gab einen Ansatz. Und wenn du dann dem Polizeibericht entnimmst, dass zum Beispiel Blut- und Hirnspritzer auf der Innenseite des Bildschirms waren, dann regt das deine Fantasie schon ein bisschen an. Was mich aber wundert ist, wie kann es sein, das laut meiner Geschichte unsere Wissenschaftlerin eigentlich tot sein müsste. Ich meine, ich hab sie entdeckt und fast wieder vollständig zusammengefügt. Wo kommt da unsere Miss Hirn her. Du glaubst doch auch, dass es dieselbe ist?“
„Zumindest wäre unser Miss Hirn wie du sie nennst, die einzige Person, die so eine Formel entwickeln könnte. Svende vielleicht noch. Ich bin mir nicht sicher, ob sie ihm wirklich überlegen ist. Klar ist auf jeden Fall, dass er sie nicht leiden kann und dass er nach dem Ereignis wieder in der Welt aufgetaucht ist. Es hat ein bisschen gedauert, aber auf einmal war er wieder auf den Kongressen. Sagte, er habe sich aus der Universität zurückgezogen und würde nur noch privat forschen. Wir sind seitdem in Kontakt.“
Er nimmt einen kräftigen Schluck aus dem Wasserglas und blickt mir in die Augen.
„ Die Frage ist doch, wer sind hier die Guten? Wem können wir vertrauen?“
Ich komme mir vor wie Tim aus „Tim und Struppi“ Womit klar ist, dass ich mich zu den Guten zähle und dafür sorgen werde, dass alles gut ausgeht. Smerg ist sicher auch ein Guter. Schließlich trinken wir hier gemeinsam Aquavit. Hätte Tim das auch getan. Sicher nicht, aber immerhin hat sein ewiger Kumpan und Weggefährte Kaptain Haddock gesoffen wie ein Loch. Gut Smerg ist mein Kaptain Haddock. Wären wir also schon mal zwei. Sonja ist sicher auch eine Gute. Zumindest wünsche ich mir das. Wenn nicht, wird’s hart. Aber das kann ich mir nicht vorstellen. Also drei. Ben? Keine Ahnung wo er steht, aber sofort lege ich ihn zu den Bösen. Nee das ist zuviel der Ehre. Ben bekommt ein Fragezeichen. Genauso wie die ganze restliche Crew. Wobei mir die Russin und die Italienerin nicht ganz geheuer sind. Liegt wohl an meiner angeborenen Angst vor Frauen. Der Inder und Svende gefallen mir auch nicht so recht. Sie sind zu ehrgeizig und ich kann mir nicht vorstellen, dass ihnen Gut und Böse im Tim´schen Sinn erwas sagen oder gar ihr Handeln beeinflusst. Nein sie werden tun, was ihr Ego ihnen befiehlt. Genauso wie die Verrückte. Langsam werden meine Gedanken trüber. Ich blicke zu Smerg auf.
„Kennst du Tim und Struppi?“
„Ja! Genau das ist hier die Frage! Wer sind die Guten?“
Warum Smerg Gedanken lesen kann ist mir erstaunlicherweise vollkommen egal. Ich freue mich nur, da ich denke, dass wir diese Fähigkeit noch brauchen werden. Erst jetzt fällt mir auf, wie besoffen ich bin. Ich stütze meine Hand auf Smergs riesiger Schulter, nicke ihm kurz zu und verlasse sein Zimmer. Da er Gedanken lesen kann, wäre jedes weitere Wort überflüssig.
17.
Draußen auf dem Gang wird mir schlagartig bewusst, dass ich an Bens Zimmer vorbei muss. Ich blicke auf das Glas, dass ich immer noch in der Hand halte und stürze den Schnaps in mich rein. Töte sie lieber Alkohol, töte sie! All diese Hirnzellen, die das gleich erlebte wahrnehmen und registrieren wollen. Nur um mich zu quälen. Ich bin mir sicher, es wird ein blutiger Kampf toben, den der Alkohol nicht gewinnen kann. Zu durchtrieben sind die kleinen Drecksdinger da oben. Ich spüre, wie sie registrieren und vernetzen. Nur damit sie bis in alle Ewigkeit über mich herfallen können mit ihren Erinnerungen und den daraus resultierenden Gedanken. Ich wünsche mir eine Teilzeit Demenz. Vielleicht gibt es dafür ja sogar Pillen. Werd mal in der Bordapotheke schauen und wenn nicht werde ich sie erfinden und damit reich werden. Vielleicht steht Sylvia ja auf Kohle. Aber wahrscheinlich ist ihr das Scheißegal. Na und! Es gibt genug andere Frauen. Werd sie alle flachlegen. So wie Ben meine Sylvia. Ich schaff es nicht und wanke zurück in Smergs Zimmer, halte ihm den Becher unter die Nase und er gießt ein. Erst als das Glas überläuft sage ich stopp, lecke umständlich den Schnaps von meinen Fingern, wodurch noch mehr verschüttet wird und kippe dann das Glas in mich rein. Mir wird fast schwarz vor Augen, ich jappse wie ein Ertrinkender und muss dann husten. Smerge klopft mit seiner Riesenpranke auf meinen Rücken.
„Mann, Mann! Dich hat´s aber erwischt.“
Ich will mir keine Blöße geben und grinse ihn unter vertränten Augen an.
„Ach scheiß was drauf!“
Dann reiße ich mich hoch und stürze durch den Flur, vorbei an Bens Zimmer. Es ist nichts zu hören. Oder doch. Leise Stimmen. Sie klingen vertraut. Wie zwei Menschen, die sich seit langem kennen. Mir wird schwarz vor Augen. Blind renne ich in mein Zimmer und werfe den Kopf über die Kloschüssel. Ich will mich übergeben. Alles raus kotzen, was die letzten Minuten oder Stunden an mich gedrungen ist. Doch es gelingt mir nicht. So sehr ich mich anstrenge. Außer ein bisschen Gewürge kommt nix raus. Werde wohl alles mit in Grab nehmen. Na gut, damit weiß ich umzugehen. Was sich eben noch wie das Ende meines Daseins anfühlte wird langsam zu einem Insekt, dass ich analysiert und bestimmt habe. Jetzt bin ich bereit es aufzuspießen und meiner Sammlung zu übergeben. Der Gedanke gefällt mir so gut, dass sich meine Stimmung schlagartig verbessert. Ich fühle mich unverwundbar. So wie Siegfried oder dieser Grieche Achilles. Nur dass ich keine Ferse habe.
18.
„Na, haben wir einen über den Durst getrunken?“
Sie ist nur zwanzig Zentimeter von mir entfernt. Ich versuche meinem Blick nicht allzu wirr wirken zu lassen. Doch sie schaut mich genauso an, wie sie mich immer anschaut. Wie viele Insekten sie wohl schon aufgespießt hat. Fräulein Tausendschön sieht Atem beraubend aus. Wie aus einer anderen Welt. Irgendwie scheint sie sich zurecht gemacht zu haben. Mir wird nicht ganz klar woran das liegt.
„Hai!“ lalle ich und hebe unbeholfen meine Hand zum Gruß.
„Ich wollte dich eigentlich fragen, ob du Lust auf ein Glas Sekt hast – Zur Feier des Tages meine ich. Aber du hast anscheinend schon gefeiert.“
Mein Gehirn arbeitet fieberhaft. Was hat sie vor? Warum fragt sich mich? Warum nicht einen von der Crew? Ben zum Beispiel! Ich grinse in mich rein. Nein sie fragt mich. Ich schüttele den Kopf.
„Nee das war nur ein kleiner Drink. Sekt? Haben wir keinen Champagner dabei?“ stammele ich und merke, wie ich schlagartig nüchtern werde.
Gleichzeitig ist mir alles egal. Vor mir steht der schärfste Körper, den sich die männliche Phantasie ausdenken kann und ob Hologramm oder Fleisch und Blut. Ich bin nicht mehr Herr über mich selbst. Irgendein Steinzeitprogramm hat die Leitung übernommen. Sorry, wenn das nicht allzu glaubwürdig klingt. Aber so ist das nun mal. Wahrscheinlich sind Frauen uns Männern deswegen überlegen. Immerhin sind Männer das ältere Modell und da hat die Evolution oder der liebe Gott Zeit gehabt, in paar Verbesserungen einzufügen. Naja, nehmt das nicht zu ernst. Mit meinem Hirn ist zurzeit kein Staat zu machen. Ich rappele mich so elegant wir möglich hoch und komme gut zwanzig Zentimeter vor ihr in den Stand. Das ist reichlich wenig, vor allem wenn man bedenkt, dass wir beide in meinem Bad stehen. Ich kann sie riechen. Irgendwas Edles schwebt um sie. Es ist kein Parfüm. Mir wird ein bisschen weich in den Knien und ich überlege, wie ich meine Schnapsfahne am besten kaschiere. Sie lächelt mich an, wie meine erste Liebe:
„Natürlich Champagner! Eine gute Idee! Ich glaub, das ist sogar welcher!“
Sie hält die Flasche in meine Augenhöhe und grinst verschmitzt. Kein Wunder das mein Hirn so weich ist wie eine überreife Tomate. Vor mir steht nicht die eiskalte Miss Superschlau. Habs doch gleich gewusst, dass sie nicht so ist wie sie tut. Das ist alles nur ein Schutzmantel, den sie sich wegen ihrer Schönheit zulegen musste. Möchte nicht wissen, wie oft sie blöd angebaggert wird. Täglich, stündlich, minütlich. In Wirklichkeit ist sie ein schutzloses Wesen, dass Freunde sucht. Ich will ihr Freund sein und mein Hirn ist jetzt nur noch als Bregenwurst zu gebrauchen. Am liebsten würde ich sie in den Arm nehmen und trösten. Doch was ist, wenn sie das missversteht. Schließlich steht vor mir kein ausgekochtes Luder sondern eine Schutzbedürftige.
„Lass uns doch nach vorne gehen, da hab ich Gläser. Es ist schön, dass du zu mir gekommen bist.“
„Aber kein Wunder! Du bist vielleicht der einzige, der mich versteht.“
Ich muss mich beherrschen, dass ich nicht wie ein Idiot mit den Kopf auf und ab wackel, während ich ihr hinterher dackel. Sorry, liebe Leserin, das ist so bescheuert, dass es stehen bleiben muss. Gibt es doch einen guten Einblick in meine Gedankenwelt zum Zeitpunkt des Besuches.
„Setz dich doch, ich hol nur grad die Gläser.“
Unbeholfen stolpere ich zum Schrank, öffne die Tür und grabbel zwei Gläser aus dem Klappverschluss. Fast wäre ich dabei umgefallen. Sie lacht laut auf. Nicht hämisch oder spöttisch, sondern so als hätte ich etwas besonders tolles gesagt.
„Na, so klein war der Drink nun doch nicht? Ich bin da immer ein bisschen vorsichtig, wenn ein Skandinavier die Flasche auf den Tisch stellt.“
Ich grinse sie an. Nein böse ist sie nicht. Ich schaffe die Gläser heil auf den Tisch.
„Naja, kenn mich nicht so mit Schnaps aus. Aber Smerg ist echt ein Lieber.“
„Ja, ich mag ihn auch!“
Für einen Augenblick wird es eiskalt im Raum. Oder besser gesagt mir. Irgendwas in mir schreit auf. Sie lügt! Schau ihr doch in die Augen! Es sind die Augen einer Schlange! So falsch! Sie kennt keine Freunde, sie kennt nur sich! Doch ich sehe nur zwei strahlend blaue Augen. Ein bisschen ausdruckslos vielleicht. Doch kalt. Nein, nein nein. Ihre Augen lachen mich an. Ich weiß es genau. Sie ist auch eine der Guten! Ich habe mich getäuscht. Später werde ich mich immer wieder über diese Szene wundern, doch jetzt bin ich gefangen und nestele am Korken der Champagner Flasche rum. Es macht kurz plopp, ein bisschen von dem Gesöff kleckert über meine Finger und ich gieße unsere Gläser voll. Erst jetzt fällt mir auf, dass sie ihre Raumfahrklamotten gegen Zivil getauscht hat. Wer denkt, sie sitzt in irgendeinem scharfen Fummel vor mir, der täuscht. Das wäre zuviel gewesen, hätte sie nur ordinär werden lassen. Nein, sie ist lässig gekleidet. Ein einfaches Kleid, das ihre Formen weder betont, noch verschleiert. Es gefällt mir. Erinnert mich an Sylvia. Sie ist in dem Stil gekleidet, wie ich Sylvia oft gesehen habe, als sie aus dem Wochenende zum Training kam Dieser Gedanke bringt mich ein bisschen weg. Sie holt mich zurück:
„Na dann Prost!“
Wir stoßen an. Ich vergesse das ungute Gefühl sofort und hänge an ihren Lippen.
„Ich weiß, dass ihr mich beäugt, wie eine Außerirdische.“
Dummes Glotzen meinerseits.
„Ich bin das gewohnt. Das war schon im Kindergarten so.“
Sie lacht, ich lach zurück.
„So ist das, wenn du hoch begabt bist. Erst wollen alle deine Freunde sein, dann stellen sie fest, dass sie dir nicht folgen können. Ich meine ich hab mir wirklich Mühe gegeben. Hab übersehen, wie beschränkt die alle sind.“
Verständnisvolles Nicken.
„Naja, will da keine lagen Geschichte draus machen.“
Nee, noch so eine Supergeniegeschichte kann ich auch wirklich nicht gebrauchen.
„Auf jeden Fall bin ich hier gelandet, weil man mir sagte, ich sei die einzige, die die Mission durchziehen kann.“
Alarm – Alarm, der Inder hat was anderes erzählt.
„Ich weiß unser indischer Freund erzählt überall, ich hätte mich zur Leitung der Mission hoch geschlafen!“
Sie lächelt traurig und schaut mich traurig an. Was soll ich denn da machen? Ich bin doch kein Monster! Natürlich schau ich tröstend zurück und mache ein empörtes Gesicht.
„Wusste ich gar nicht.“ Log ich und bereute es sofort. „Also ich mein, der Viladings schwätzt den ganzen Tag irgendein Zeug. Da achtete doch niemand drauf.“
„Na egal, die Wahrheit ist auf jeden Fall, dass man mich drei Wochen nach dem Schwerereignis zur NASA geholt hat. Den Rest weißt du ja!“
Und ob, nicke ich. Nur wenig später war ich mit von der Partie. Ich war der Zweite! Warum hab ich das nie hinterfragt. Ich war kein Wissenschaftler und kein Astronaut, hatte mich aber sofort um die Mitreise beworben. Immerhin konnte ich vorweisen, dass ich das ganze Ereignis kannte und der überlebende Braunschweiger hat sicher ein bisschen nachgeholfen.
„Ich war es übrigens, der dir das Ticket besorgt hat! Fritsche kannte ich aus der Studienzeit. Er war der einzige, der mir nicht nachstellte. Wir waren so was wie Bruder und kleine Schwester. Du warst meine Bedingung mit zu machen!“
„Warum?“ schießt es aus mir heraus.
„Naja Fritsche mochte dich und irgendwer musste schließlich mit. Du warst der Einzige aus der ganzen Journallie, der überhaupt irgendwelche Referenzen hatte. Außerdem kanntest du die Ereignisse.“
Woher wusste sie davon? Irgendwo in meiner Hirntomate kämpften wohl ein paar Denkpartisanen. Sie wurden sofort niedergemäht; mit ihnen der kurze Zweifel.
„Dazu kommt, dass ich das Gefühl hatte, wir kennen uns von irgendwoher.“
Ich lächele. Mir ist es inzwischen Scheißegal, wie ich hierher gekommen bin. Was zählt, ist dass sie nur ein paar Zentimeter vom mir entfernt sitzt. Der Champagner schmiegt sich langsam auf den Aquavit und ich erreiche einen Zustand, der zwischen kotzübel und pudelwohl liegt. Sie redet auf mich ein, ich antworte, versuche witzig zu sein, bin es vielleicht sogar. Es ist herrlich. Zum Teufel mit Sylvia. Sie gefällt mir zwar tausendmal besser als Tausendschönchen, aber wer sitzt hier vor mir und trinkt Champagner mit mir. Eben! Ich schenke nach. Mist – leer. Ich bin langsam echt besoffen!
„Warte!“ sagt sie und beugt sich über den Kühlschrank. „Kaltes Bier!!! Das ist genau das was ich jetzt brauche. Dieses Blubberzeug hat mir nie geschmeckt.“
Ich griene sie aus den Augenwinkeln an. Sie gefällt mir immer besser. Es ist, als ob einem Drahtseilkünstler eine Ebene unter dem Seil gespannt wird. Sie stellt das Bier vor meine Nase und lächelt mich an. Ihre Hand streicht unvermittelt über meine Stirn.
„Du bist der erste Mann, der mir gefällt!“
Verdammt! Ich bin so voll wie eine Strandhaubitze und jetzt das. Später wird mir klar werden, dass ich vieles hätte voraussehen können, wenn ich nicht so besoffen gewesen wäre. Doch jetzt befinde ich mich im siebten Himmel. Sie beugt sich über mich. Es ist das letzte, was ich jetzt hier schreiben möchte. Vielleicht liegt das auch daran, dass es die Sicht auf alles weitere verändern würde. Zumindest halte ich die Schilderung der Ereignisse jener Nacht für verfrüht.
19.
Ich liege in meinem Bett. Bin splitternackt. Mein Kopf ist so weich wie ein drei Jahre alter Camembert. In meinem Mund schmeckt es genauso. Ich schaue mich um. Außer mir ist niemand da. Die Tür ist verschlossen. Langsam dämmert mir, was war. Der Schock ist so groß, dass ich erstmal wieder einschlafe. Meine Träume sind spannend. In der Regel geht es darum, dass ich am Ende vor einem Tribunal stehe und mich als Kriegsverbrecher verantworten muss. Jedes Mal, wenn ich mich mit einer Brandrede verteidigen will, wache ich auf, weswegen ich im dritten oder fünften Traum gleich einen Antrag auf Beendigung wegen Verfahrensfehler stelle. Zufrieden mit mir schlafe ich danach wie ein Baby und wache ohne Spätschäden auf. Es ist so wie es ist und so wie es ist ist es gut. Fröhlich summe ich diese idiotische Textzeile vor mich her und starre an die Decke. Ab und an suche ich den Geruch von Tausendschönchen unter der Decke, kann aber nix feststellen. Wahrscheinlich riecht sie ja eh nicht. Ein bisschen wundert mich mein Gleichmut schon, doch wer kann schon misstrauisch werden, wenn es ihm so gut geht wie mir. Immer noch summend steige ich unter die Dusche.
20.
Geleckt und geputzt trete ich in die Kommandozentrale und schaue dem Treiben zu. Niemand beachtet mich weiter. Auch nicht Tausendschönchen. Ist mir recht so. Da ich an Bord keinerlei handelnde Funktion habe, bin ich es gewohnt ignoriert zu werden. Ich müsste ein paar Notizen machen. Die Ereignisse des letzten Tages zusammenfassen und an meine Redaktion auf der Erde senden. Doch ich weiß, dass es dafür schon zu spät ist. Sie hatten den Bericht heut früh erwartet. Jetzt ist es Nachmittag. Normalerweise passiert mir so was nicht, doch jetzt ist es mir egal. Werde mich auf die Ereignisse berufen.
„Na auch schon auf den Beinen?“
Sylvias Stimme klingt ein bisschen härter als sonst und ich frage mich, wieso ich sie vergessen habe. Während ich eine Antwort suche höre ich mich antworten.
„War halt eine aufregende Nacht.“
Ich grinse sie unverschämt an. Sie schaut ein bisschen verwirrt.
„Na dann will ich unseren Abenteurer mal aufklären. Letzte Nacht ist der Antrieb ausgefallen! Wir haben hier ganz schön die Kacke am dampfen!“
„Ja aber wir brauchen den Antrieb doch gar nicht. Ich meine die haben doch erzählt, dass wir nach Verlassen des Sonnensystems nur noch durch die Gravitationskräfte beschleunigt werden“
„Das stimmt auch weitestgehend!“ mischt sich Maria ein. Sie hat anscheinend nichts zu tun. „Der Captain, Ludmilla und Ben sind unten und versuchen den Schaden zu beheben. Smerg ist bei ihnen. Er hat wohl an der Entwicklung des Antriebs mitgearbeitet oder kennt sich zumindest aus.“
„Ja und?“ will ich wissen, „brauchen wir nun den Antrieb oder nicht?“
„Wie gesagt, fürs grobe ist er unnötig, aber es kommt ja immer was dazwischen und dann ist es gut, wenn alles an unserem Schiff funktioniert.“
„Ja und? Kommt grad was dazwischen?“
„ Hoffentlich nicht – aber das ist ein außergewöhnlicher Ort.“
Mir fällt auf, dass ich Maria bisher nur wenig beachtet habe. Sie ist auf eine merkwürdige Art attraktiv. Nichts an ihr stimmt mit den Proportionen überein, die landläufig als schön gelten, die man auf Plakaten oder in Männermagazinen sieht. Doch alles zusammen ergibt eine dermaßen gelungene Komposition, die mich jetzt ein bisschen verwirrt. Sylvia scheint das zu bemerken, denn sie wendet sich überraschend abrupt von uns weg und setzt sich wieder an ihren Rechner.
„Was ist denn los mit dem Antrieb? Ich meine, weiß man da schon was?“
Maria scheint ein bisschen in Quatschlaune zu sein, denn sie beginnt mit einem Vortrag über die vielen technischen Errungenschaften, die in so einem Antrieb stecken, wie viele davon bisher niemals erprobt wurden, weil eben die Zeit nicht langte, welche Komponenten deswegen besonders als Fehlerursache in Frage kommen und das im Zweifelsfall Ludmilla ja Russin sei und die haben ja schließlich die Raumfahrt und speziell das Improvisieren in Notfällen mit der Muttermilch aufgesaugt und dass sie selber – Maria – sich deswegen keine all zu große Sorgen machen würde.
„Nur unser komisches Supergirlie gefällt mir nicht so gut.“
Sie schaut mich an, als suche sie in meinem Gesicht Zustimmung.
„Was ist denn mit der Deutschen nicht in Ordnung?“ frage ich strenger als ich will.
Sie blickt kurz verwirrt.
„Vielleicht bin ich ja nur eifersüchtig, weil sie so schön und talentiert ist.“
Mit einem schüchternen Lächeln, das wohl die triefende Ironie überdecken soll, lässt sie mich stehen. Verflucht was geht hier ab! Gestern noch war Tausendschönchen Staatsfeind Nummer eins und jetzt ertappe ich mich dabei, wie ich sie … Ja was? Verteidige ich sie? Bin ich jetzt ihr Verbündeter? Hat sich meine Haltung zu ihr tatsächlich um 180 Grad geändert? Sie muss meine Gedanken gespürt haben, denn auf einmal ist sie bei mir, streift mich und ich kann nur ein leises „Schön dich zu sehen!“ hören, während sie weiter im Gang verschwindet. Mein Kopf ist leer gefegt. Vielleicht ist es ja tatsächlich nur der pure Neid auf sie, der uns alle gegen sie einnimmt. Was soll sie denn machen? Sich auf unser Niveau begeben, nur um ein paar zweifelhafte Sympathiepunkte einzufahren. Sie muss einfach arrogant und überheblich daherkommen. Sonst hat sie keine Chance ihr Leben zu leben. Dass ausgerechnet ich ihr gefalle, muss da nicht passen. Ich hab zwar einiges auf dem Kasten aber mir ist auch klar, dass ich in einer ganz andere Liga unterwegs bin als sie. Also was soll´s? Genieß die Zeit.
21.
Mein Schicksal schenkt mir nur ein paar Minuten dieser ebenso beruhigenden wie dämlichen Gedankens. Denn ich höre einen aufgeregten 1. Offizier neben mir brabbeln. Das hat mir noch gefehlt.
„… du warst doch mal Arzt oder so was?“
Ben´s Speichel fliegt in mein rechtes Ohr. Um der Dusche zu entkommen trete einen Schritt zur Seite und schaue ihn an.
„Hab´s in deiner Akte gelesen. Du warst´n bekannter Leichenfledderer bevor du mit dem Schreiben anfingst.“
Ben grinst, warum ist mir ein Rätsel bis er es auflöst.
„Na komm schon. Nicht jeder stirbt alt. Da war doch ne Menge Frischfleisch dabei!“
Ben ist zwar ein Idiot, aber damit hat er Recht. Die meisten, die auf meinem Edelstahltisch landeten waren jünger als 35. Etwa ein Drittel weiblich und davon wieder ein viertel attraktiv. Zumindest bevor sie auf meinem Tisch landeten. Wenn ich so gestrickt wäre wie Ben, hätte ich mich statistisch also jedes zwölfte Mal freuen können. Dem war aber nicht so. Es war zum kotzen.
„Also hör zu, wir brauchen deine Hilfe. Den Inder hat´s zerissen. Liegt mausetot in seiner Bude.“
Erst jetzt fällt mir auf, dass der Inder nicht im Kontrollraum ist.
„Ben! Verarsch mich nicht.“
„Nee, Chef keine Sorge, der alte Ben doch nicht!“
Wusste gar nicht, dass Ben Ironie kennt. Habe mich wohl getäuscht.
„Also was ist, Gehen wir?“
Ich trotte ihm hinterher. Ich weiß, normal wäre gewesen, ihn mit Fragen zu bombardieren und schockiert zu sein. Doch niemand kommt auf die Idee, Ben eine Frage zu stellen und zum schockiert sein bin ich heute einfach zu belämmert.
22.
Wie in einem beliebigen Krimi stehen Captain Miller, Ludmilla und Smerg um den toten Ravi. Der Inder liegt auf seinem Bett, als ob er schlafe, doch seine Haltung verrät mir gleich, dass irgendetwas nicht stimmt. Es ist der Winkel, den sein Kopf mit dem Rest des Körpers bildet. Bei jedem anderen hätte ich sofort auf Genickbruch getippt, doch bei so einem Inder konnte man nie wissen. Immerhin haben die Yoga erfunden.
„Darf ich mal?“
Die nächsten Minuten laufen mechanisch ab. Ohne das geringste Zögern spule ich das Programm jedes Forensikers ab, der sein Handwerk versteht. Obwohl ich schon seit Jahren keine Leiche mehr angeschaut habe. Ich betaste Ravis Hals, schaue in seine Augen, hebe seine Gliedmaßen, bitte um mehrere 3D-Fotos der Situation, begrüße Tausendschönchen und Sylvia, die zur gleichen Zeit eintreffen, schicke nach dem medizinischen Besteck, organisiere den Transport des Restinders in die Krankenstation – Ben und Smerg übernehmen das. Der verwachsene Schwede ist mittlerweile auch erschienen und gönnt sich erst mal einen Schluck. Ich verzichte. Mir ist nicht nach Alkohol. Sylvia und die anderen greifen hingegen gerne zu. Nur die Deutsche verzichtet ebenfalls. Streng schaut sie auf das leere Bett neben dem jetzt nur noch Captain Miller steht.
„Verfluchte Sauerei“ murmelt er in sich hinein und schaut zur Deutschen rüber.
„Was wollen Sie jetzt unternehmen?“ fragt diese.
„Wir müssen den Tod melden, dann soll unser Schreiberling sich mal an seinen alten Beruf erinnern. Das sieht mir nicht nach einem sanften Tod im Schlaf aus; aber ich bin kein Spezialist der da schon.“
Miller ist mir wohl immer noch sauer wegen meiner fehlenden Anteilnahme gegenüber seinen Verschwörungstheorien.
„Bis dahin gehen wir davon aus, dass der Inder eines natürlichen Todes gestorben ist. Ich denke es hilft uns nicht viel, wenn die da unten“ – er sagt immer die da unten, wenn er die Zentrale in Marseille meint. – „uns jetzt auch noch auf den Sack gehen. Zumindest vorläufig. Ich hoffe Sie stimmen mir da zu!“
„Meinen Sie, das ist schlau? Wenn wir erwähnen, dass hier eine Autopsie stattfindet, dann weiß die Expeditionsleitung doch eh, dass hier nicht alles koscher ist!“
„Was wissen sie schon von denen? Machen Sie sich lieber an die Arbeit und schnippeln den armen Kerl auseinander. Und kein Wort davon an die Leitung, das gilt für Sie genauso wie für alle anderen Crewmitglieder.“
Giftig schaut er jetzt Tausendschönchen an. Sie scheint ungerührt. Schwebt über den Dingen und davon. Mich schaut sie nicht ein einziges Mal an.
23.
Captain Millers Paranoia scheint doch etwas ernster zu sein. Da mir aber keine vernünftige Ausrede einfällt und ich auch nicht diskutieren möchte beginne ich mit meiner Arbeit. Das nötige Werkzeug lass ich von unserem Automaten fräsen, der alles was kleiner ist als ein Kühlschrank binnen weniger Sekunden aus dem rohen Material – hier ist es irgendeine Titanlegierung – schneidet. Du wählst einfach aus dem Katalog das aus, was du brauchst und tippst zweimal auf den Bildschirm und kurze Zeit später landet das fertige Teil im Wasserbecken. Ich weiß was zu tun ist, mache mir keine Gedanken mehr. Warum hat sie mich nicht mal angeschaut? Ist doch nicht so schwer! Ich schäle mich aus meinen Klamotten, streife die OP-Fummel über und lass die Gummihandschuhe kurz schmatzen. Ich habe nicht erwartet, dass sie mir den ganzen Tag um den Hals hängt. Aber dass sie wegschaut. Wer assistiert mir eigentlich? Bin es zwar gewohnt, alleine zu arbeiten, aber eine nette Assistentin wäre hilfreich. Gut als ich in die Zentrale kam hat sie mich bemerkt, sogar ein bisschen gegrüßt. Wie ein Frauchen ihren Schoßhund begrüßt. Ich reiße mir die Handschuhe von den Händen, werfe sie in die Mülltonne und gehe zur Sprechanlage.
„Captain Miller, wenn ich das hier gut machen soll, brauch ich jemanden der mir zur Hand geht.“
Schweigen am anderen Ende, dann „soll ich Ihnen vielleicht Ben schicken?“
„Ben ist sicher ein guter Offizier und ein großartiger Mensch,“ lüge ich, „aber das hier ist sicher nichts für ihn!“
Gemurmel, dann haucht Captain Ludmilla ins Mikro: „ Maria ist auf dem Weg!“
„Kennt sie sich aus?“
„Das frag am besten mich!“ Maria scheint immer noch ein bisschen sauer zu sein. Auf jeden Fall gibt sie sich keine Mühe, zu freundlich zu wirken.
„Bevor ich Astronautin wurde, habe ich Medizin studiert. War aber nix für mich. Zu langweilig.“
„Aha!“ murmele ich, alles weitere, was mir einfällt behalte ich für mich.
Es gibt eh keine Alternative und wenn ich nicht die ganze Zeit Skalpelle und sägen suchen will, dann ist Maria so gut wie jeder andere. Vielleicht sogar besser. Ich warte nicht bis sie umgezogen ist, sondern fange schon an. Die kleine Kreissäge gräbt sich in das Brustbein. Der Geruch nach verschmortem Fleisch und verglimmenden Knochen reizt meinen Magen, doch ich kann mich beherrschen. Maria reicht mir die Zange, die nötig ist, um den Brustkorb zu öffnen. Den ersten Test hat sie bestanden und nächsten zwei Stunden reden wir nur das nötigste. Ich diktiere den Befund in meinen Rekorder und lasse sie ab und an bestätigen. Das mögen die meisten Assistenten. Maria ist da nicht immun. Am Ende klappen wir alles wieder zusammen. Die Gewebeproben stehen schon im Labor. Es ist eine verdammte Sauerei. Was auch immer mit dem Inder passiert ist. Es gibt keine Spur davon, dass ihn irgendwas oder irgendwer angefasst hat noch dass er irgendwo gegen gestoßen ist. Nur sein dritter und vierter Halswirbel sind zerschmettert. Wie das geschehen konnte ist eine Frage, die meinen Ehrgeiz anstachelt. Maria schaut mich fragend an. Ich habe das Gefühl, etwas bei ihr gut machen zu müssen.
„Ich weiß es nicht! Aber ohne deine Hilfe wäre ich jetzt noch am basteln. Danke!“
„Lass gut sein, ich hätte mich auch in Tausendschönchen verknallt.“
Wieso sie das noch auf dem Schirm hat, ist mir ein Rätsel. Überhaupt woher weiß sie, dass ich was mit der Deutschen hab.
„Quatsch! Hast du Lust, mir hier weiter zu helfen.“
Was anderes fällt mir nicht ein, um sie abzulenken. Sie fällt rein.
„Wenn´s geht? Zurzeit hab ich nicht so viel zu tun. Eigentlich schon die ganze Zeit. Captain Miller und Ben sind gute Astronauten.“
„Kann schon sein.“
Dass ich beide für vollkommene Idioten halte, sage ich ihr nicht. Wir machen uns wieder an die Gewebeproben, was nichts anderes heißt, als dass wir sie in die unterschiedlichen Analysegeräte reinstopfen. Den Rest übernimmt die Maschine, nachdem ich eingegeben hab, was untersucht werden soll. Früher wusste ich noch, was jede Analyse bedeutet. Doch mittlerweile ist mir das egal. Ich hab´s vergessen. Wenn die Leserin meines Berichts da genaueres erfahren möchte – bitte, nur zu. Ist interessant und es gibt jede Menge Literatur.
24.
Ich liege auf dem Bett. Aus der Anlage dröhnt eine Mischung aus Hard Rock und Jazz. Es ist etwas lauter als sonst. Ist auch niemand da, mit dem ich mich unterhalten möchte oder könnte. Die Autopsie hat mich ganz schön mitgenommen. Mein Feierabendbier ist noch nicht ganz leer, als ich eindöse. Ich bin im Nichts unterwegs. Hier gibt es nur vertrackte Schlagzeugfiguren und virtuose Gitarrenläufe. Eine Hand legt sich auf meine Wange und ich schrecke hoch. Für einen Augenblick will ich der Deutschen in die Arme fallen. Dann erkenne ich Sylvia und bin froh, dass sich meine Position nicht verändert hat. Ich schließe wieder die Augen,
„Was gibt’s?“
Es ist nicht unfreundlich gesagt oder gemeint. Ich gebe nur den Heranwachsenden, der seine eigene Trägheit als cool empfindet und das jedem unter die Nase reibt.
„Dein Typ wird verlangt.“
Sylvias Gesicht schaut ein bisschen mitleidig auf mich herab. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass ich die Augen kaum aufhab. Cool ist cool.
„Captain Miller und Captain Ludmilla haben so was wie ne Vollversammlung einberufen. Da bist du dann auch mit gemeint. Außerdem wollen alle wissen, was du über Viladings seinen Tod herausgefunden hast,“ brüllt sie mitten in den synkopisierten 16tel Lauf aus Gitarre, Bass und Keyboard.
Es wundert mich, dass sie nicht leiser gestellt hat. Aber vielleicht respektiert sie ja auch meine Hoheit über die Stereoanlage. Steht doch im Bericht, will ich grad sagen, doch mir fällt ein, dass ich gar keinen Bericht geschrieben hab. Es gibt nur das Sprachprotokoll. Muss es unbedingt kopieren. Ich mache leiser, schließlich ganz aus. Zum klar denken ist das Gedudel nun wirklich nicht gemacht worden.
„Wann braucht ihr mich?“ frage ich im Aufstehen.
Zeitgleich stöpsel ich das Aufnahmegerät an die Stereoanlage und starte den Kopiervorgang. Eine zusätzliche Kopie werde ich später machen. Sylvia scheint ein bisschen verwirrt darüber, dass ich so schnell handeln kann.
„Hattest ganz schön zu schaffen die letzte Zeit!“
Ich spitze die Ohren, kann aber keine Anspielung feststellen, erspare mir also den Rückpass.
„Wir wollen uns zum Essen treffen. Leichenschmaus sozusagen. Schaffst du´s in einer halben Stunde?“
Ich frage mich zwar, was ich in der Zeit machen soll, sage aber zu. Nachdem Sylvia den Raum verlassen hat, überlege ich, ob ich nicht ein bisschen zu harmoniesüchtig bin. Konfliktscheu wäre auch ein passendes Wort. Ich dreh die Musik wieder an und starre an die Decke.
25.
Sie sitzen schon alle da. Trotz des Todes des Inders ist die Stimmung nicht übermäßig gedrückt. Ein Blick auf die Batterie geleerter Proseccoflaschen verrät mir warum. Das Zeug ist anscheinend für alles gut. Ben und Ludmilla haben gekocht. Jeder hier könnte die Küche eines Spitzenrestaurants leiten. Irgendein Schwachkopf war auf die Idee gekommen, dass gemeinsames Kochen die Crew auf Weltraummissionen besser zusammenschweißt. Das hat zwar nichts mit der Wirklichkeit zu tun, sorgt aber für gutes Essen an Bord. Wir wurden wahrscheinlich durch die härteste Kochschule der Welt geprügelt. Dagegen war das Fitnessprogramm ein Kinderspiel. Trotzdem gibt es leichte Unterschiede. Während ich mich nur recht zurückhalten an den Kochorgien beteilige – meist um in der Nähe Sylvias zu sein – gibt es Crewmitglieder, die sich dem mit kindlicher Begeisterung hingeben können. Ludmilla ist so ein Fall. Bei all ihrer Strenge. In der Küche wird sie zum Menschen. Sie albert, macht Späße und wirft die Töpfe und Pfannen in die Luft, wenn ihr danach ist. Es ist manchmal wenig, was der Mensch zum Glück braucht. Ben ist sicher der ideale Partner für Ludmillas Begeisterung. Bar jeden Selbstzweifels macht er alle Späße mit. Sogar mich hätte er fast mal eingewickelt, wenn er nicht ständig am Grill stehend die Würste mit männlichen Geschlechtsorganen unterschiedlicher Nationalität verglichen hätte. Ein oder zwei solcher Scherze höre ich gerne und ich kann auch drüber lachen. Doch Ben hatte 57 verschiedene Sorten in der Mache und lies keine aus: „Schau mal die kleinen Gelben da. Das sind Chinks! Hahahha…“ usw… Heute gibt es keine Würste. Ludmilla verliest die Menufolge. Gleich wird sie wieder die alte sein. Soviel Spaß ihr Kochen bereitet, sowenig Freude hat sie am Essen. Liegt vielleicht auch an der Art, wie sie die Speisen interpretiert.
„Es gibt heute Suppe mit Gemüse. Dann folgt der Hauptgang aus Fleisch und Stärkebeilage. Wer mag nimmt sich was von dem Salat. Zum Schluss dann Käse und Süßspeise.“
Kein einziges Wort gelogen, doch jeder andere hätte Ludmillas Klarheit umgangen und wenigstens ein bisschen von Petersilie an Fettaugen geschwafelt oder so. Mir gefallen Ludmillas Ansagen und es tut mir weh, dass sie selbst unter ihrer Sichtweise leidet. Ben ist da anders. Mit großer Geste entkorkt er den Rotwein.
„Bordeaux, 1997er, Chateau Isidor blablablla!“
Schenkt Sylvia!!!! einen kleinen Schluck ein, zwinkert ihr zu und lässt sie kosten. Sie lässt sich nichts anmerken, kippt den Stoff runter und hält das Glas erneut hin. Ben macht die Runde, grinst mir überlegen ins Gesicht als er bei meinem Glas angekommen ist und setzt sich dann schließlich auf seinen Platz. Ich habe mich inzwischen gewappnet. Bin unverwundbar geworden. Ben und Sylvia sind mir egal. Selbst Tausendschönchen kann mir nichts. Ich bin frei. Mit diesem Gedanken setze ich den Roten an die Lippen. Urplötzlich schießt ein Gedanke durch meinen Schädel. Rotwein – 1997 – Chateau Isidor. Da war was. Ich erinnere mich noch genau an die Zeit. Ich war drauf und dran, zum kompletten Arschloch zu mutieren. An der Uni galt ich als talentiert. Ich selbst hielt mich für ein Genie, den neuen Helden der Chirurgie. Meine Augen waren besser, meine Hände waren ruhiger, meine Gedanken schneller als die aller anderen. Damit das so blieb kippte ich jeden Abend eine Flasche Bordeaux in mich rein, wenn es die Gelegenheit ergab auch mehr. Bevorzugt Chateau Isidor. Damals die Hausmarke vom nächstgelegenen Discounter. Während ich das Zeug in mich rein laufen ließ, las ich alles, was mit meinem Fach zu tun hatte. Ich wollte es wissen. Und in einem dieser Fachartikel war von einem Stoff die Rede, der Epilepsieähnliche Anfälle verursacht. Das Jahr und das Symptom sollten ausreichen, um den Artikel wieder zu finden. Ich nippe nur kurz an dem Glas. Verstecke meine Erregung hinter einem verstörten Lächeln und warte auf den Moment am Computer.
26.
Von den Gesprächen beim Essen bekomm ich kaum was mit. Es gibt sich auch niemand Mühe mich einzubinden. Entweder aus Rücksicht oder aus Verachtung. Ben grinst nach wie vor unverschämt rüber und erzählt Anekdoten aus seiner Heimat. Captain Miller und Ludmilla schaufeln das Menu missmutig in sich hinein. Miller aus echter Sorge, Ludmilla aus Gewohnheit. Ich ertappe mich dabei, wie ich ab und an zur Deutschen rüberschiele, kann ihren Blick aber nicht fangen. Gut, vielleicht schauen wir ja abwechselnd. Ein Blick in die Gesichter der anderen zeigt mir, dass sie gut zugelangt haben. Selbst der große Däne ist rosiger im Gesicht als sonst. Nur Svendes Leber lässt trotz Dauerbeschuss keinen Alkohol ins Blut. Vielleicht gibt es da ja auch so was wie ein Gleichgewicht. Klar die Deutsche ist auch noch nüchtern. Sie gehört zu den Menschen, die einen Teller lehr kriegen ohne dass man sieht wie. Es gibt kein Schmatzen, kein Gabelkratzen, kein Sägen oder Gelöffel. Das Essen VERSCHWINDET einfach. Meine Gedanken kehren zurück zur letzten Nacht. War die Erinnerung daran heute Morgen noch so präsent wie Bens dummes Geschwätz bei Tisch, so legt sich mehr und mehr ein Schleier darüber. Millers leicht belegte Stimme reißt mich aus den Gedanken.
„So, lasst uns mal zur Sache kommen wir sind ja nicht zum Völlen hier. Möchte also erst mal mein Bedauern über das Verscheiden unseres geschätzten indischen Kollegen ausdrücken. Kann gar nicht sagen, wie sehr sein Abschied schmerzt. Habe mir eine kleine Laudatio zurechtgelegt, die ich Ihnen und Euch vortragen möchte. Werde ein kurzes Gebet anschließen, weil mir als rechten Christen danach ist. Auch wenn ich mir nicht sicher bin ob unser lieber Viladings das gutheißen würde. Glaube er war Atheist, aber unter Gottes Herrschaft sind ja alle gleich…“
Au weia! Prosecco und Bordeaux können ganz schöne Schäden verursachen und mit einem von diesen konfrontiert uns anscheinend Captain Miller. Ich denke es reicht, wenn wir das ertragen müssen und schütze deshalb die Leserin vor den geistigen Leistungen unseres Captains. Nach gut einer viertel Stunde ist es vorbei und Miller braucht einen Schluck Grappa. Man hat an alles gedacht.
„Jetzt zu Ihnen Doc. Was hat ihre Autopsie ergeben?“
Damit habe ich gerechnet. Das Vortragen medizinischer Ergebnisse ist ein Heimspiel und ich spule los:
„Todesursache war der Bruch der Wirbelsäule. Zweiter und dritter Halswirbel sind vollkommen zerschmettert. Infolgedessen setzte die Versorgung des Gehirn aus. Den Todeszeitpunkt kann ich erst genau festlegen, wenn ich die Laborergebnisse ausgewertet habe. Es gab keinerlei Spuren auf Fremdeinwirkung. Weder Hautabschürfungen, noch Blutergüsse. Wie der Inder sich den Hals ohne fremde Hilfe gebrochen haben kann, ist mir ein Rätsel. Tatsache ist aber, das alles andere mehr oder weniger ausscheidet. Ich bin mir zwar sicher mit meiner Aussage, aber es können immer noch Ergebnisse oder Beobachtungen auftauchen, aufgrund derer ich mein Urteil verändern muss.“
Ich liebe den letzten Satz, heißt der doch, dass ein riesiges Hintertürchen offen steht, falls ich Mist gebaut hab. Die anderen starren mich an.
„Ja und? Ist das alles?“
„Vorläufig ja!“
Wie schon den ganzen Tag, hab ich mich beim Saufen zurückgehalten und bin entsprechend nüchtern. Die anderen plappern erregt los und versuchen so ihrer Aufregung Herr zu werden. Woran ist der Inder gestorben? Halswirbel zerschmettert, wie geht denn das? Miss Superhirn sagt nichts. Sie schaut kurz zu mir hinüber und ich bin mir nicht sicher, ob sie mich triumphierend anschaut und wenn, was das zu bedeuten hat. Sie steht wortlos auf und verlässt den Raum. Ich widerstehe der Versuchung ihr zu folgen und gehe stattdessen zu Captain Miller.
„Wollen wir das jetzt der Zentrale melden?“
schon in der Mitte der Frage weiß ich, dass es hoffnungslos ist. Millers Blick ist glasig und er grient zu mir hoch:
„Setzen Sie sich doch! Sie wissen, dass ich große Stücke auf Sie halte,“ fährt er fast flüsternd fort. Nicht, ohne mir das linke Ohr zu duschen. „Auch wenn Sie ein Gott verdammter Zivilist sind. Ich glaube an Ihre Loyalität. Nein wir werden das erst mal hier oben klären. Wenn die da unten Wind davon bekommen, brechen die noch die Mission ab. Das sind eben alles Sesselpupser. Die haben keinen Mumm in den Knochen. Kennen nur ihre Paragraphen und Regeln…“
„Heißt das, dass Sie auch den Tod Viladings verschweigen?“
„Was heißt verschweigen. Wir werden es ja bekannt geben. Doch erst wenn wir unserer Mission erfüllt haben. Es geht hier um mehr als um ein indisches Physikgenie. Das ist eine Mission, die über Wohl und Wehe der Menschheit entscheidet. Die lass ich mir nicht aus der Hand nehmen.“
„Hören Sie doch auf damit, wir machen hier einen kleinen Ausflug zu zwei Sternen, die ein merkwürdiges Phänomen zeigen. Mehr nicht und auch nicht weniger! Wissenschaftlich hoch interessant, aber mit dem Schicksal der Menschheit hat das nur wenig zu tun.“
„Meinen Sie? Na dann kommen Sie mal mit!“
Schwankend steht Miller auf und wankt in Richtung seiner Kabine.
„Sie denken sicher, ich führe Sie ins Zentrum der Macht? Dachte ich vor ein paar Tagen auch noch. Bis ich eine Nachricht von ganz oben bekam.“ Er lacht, sicher weil ich ihn etwas schräg anschaue. „Nein! Der heilige Geist ist nicht in mich gefahren. Ich meine die oberste Leitung. Der Präsident sozusagen!“
Ich weiß auch nicht warum, aber diese Militärfuzzis haben anscheinend ein großes Bedürfnis danach, ihre Umwelt mit Speichei einzudecken. Ich trete etwas zurück. Miller nimmt das als Zeichen, einen Schritt vorzutreten und mir fast ins Ohr zu beißen:
„Kommen Sie!“
Ich reibe mir die geduschte Gesichtshälfte und folge ihm zu seinem Computer. Miller tippt energisch darauf herum und endlich leuchtet eine Textzeile auf.
„Miller, ab sofort hat die Deutsche das volle Kommando. Allen ihren Befehlen ist bedingungslos Folge zu leisten. Bauen Sie keinen Scheiß und halten sie die Eierköppe in Schach. Um die Russin und ihre Gespielin kümmern wir uns.“
Miller merkt, dass ich über den Jargon etwas erstaunt bin,
„liegt an dem Dechefrierprogramm. Man kann sich individuell einstellen. So wie die Sprache bei einem Navi zum Beispiel. Ich mag es lieber ein bisschen direkt, aber wenn Sie wollen kann ich wieder auf militärischen Standardjargon umschalten.“
Er ist schon dabei in den Einstellungen des Programms zu fummeln, doch ich unterbreche ihn
„Lassen Sie, ich versteh das so auch besser. Bloß was hat das zu bedeuten?“
„Schauen Sie, wir haben ja hier Aufgabenteilung. Ich bin der Chef des Schiffes und der Crew. Die Deutsche ist Chefin der Wissenschaftler: Sie sagt, was geforscht wird, ich sage, wohin das Schiff fährt. Soweit alles klar?“
„Nicht so kompliziert.“
„Und jetzt diese Scheiße! Damit ist sie absolute Herrscherin über das Schiff!“
„Hm…“ mach ich erst mal.
Mir fällt nichts ein. Wie normal oder bekloppt das ist, kann ich nicht beurteilen. Allerdings gefällt mir der Gedanke nicht, dass meine liebe Miss Superhirn soviel Macht bekommt.
„Was wollen Sie jetzt machen?“
„Erst mal gar nichts! Doch wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die Kleine nicht richtig tickt. Vielleicht macht das nichts. Bisher hatten wir ja keine Probleme. Kann also sein, dass alles glatt läuft. Doch es gefällt mir eben nicht. Und unternehmen kann ich nichts. Mir sind die Hände gebunden. Aber ich kann versuchen mir einen Reim draus zu machen. Überlegen Sie mal. Warum bekommt so eine Wissenschaftstusse das Kommando über so ein Schiff. Warum werde ich zum Steuermann degradiert? Was kann so wichtig sein? Ich hab da ein bisschen recherchiert und was finde ich. Unsere kleine Pussi ist mit der wichtigsten Formel der Menschheit beschäftigt. So steht es zumindest in einem der Gutachten, dass immer in solchen Fällen eingeholt wird. Waren mir bisher schnuppe die Unterlagen, aber jetzt ist das etwas anderes. Wenn Sie dann mal überlegen, dass dies die teuerste Weltraummission ist, die je durchgeführt wurde, dann wird selbst Ihnen klar, dass das hier keine Butterfahrt ist.“
Ich nicke, drehe mich aber erst mal nach einem Waschbecken suchend um, stürze unauffällig darauf zu und wasche mir Millers Speichel vom Gesicht.
„Harter Tobak!“ stoße ich aus meinem nassen Gesicht hervor.
Miller reicht mir ein Handtuch. Ich staune, doch bin ich auch froh. Es ist frisch. Vielleicht habe ich mich in Miller getäuscht. So blöd ist der gar nicht. Im Gegensatz zu mir. Es hat mich nie gewundert, warum all diese Militärfuzzis und Generäle rum gewuselt sind und auf wichtig gemacht haben. Dachte, das sei eben so in der Raumfahrt.
27.
Ich habe keine Lust auf die Tafelrunde und setze mich stattdessen an meinen Rechner. Chateau Isidor – Welches Jahr war es gewesen? Ich versuch mich an die Etiketten zu erinnern. Fehlanzeige. Krieg noch nicht mal die Farbe zusammen. Auf gut Glück gebe ich die Weinmarke ein. Nach der dritten Auflistung nutzloser Links geh ich in die Küche. Meine Verachtung für Alkohol ist etwas abgeflaut und auf dem aktuellen Etikett werde ich sicher was finden, das mir weiter hilft. Der Rotwein ist im Lagerraum. Erst heute geht mir auf, dass der Raum riesig ist und mehr einem mittleren Supermarkt gleicht. Sogar Einkaufswagen stehen bereit. Lebensmittel und Dinge des täglichen Bedarfs stehen ordentlich in den Regalen bereit. Die Temperatur ist etwas niedriger als im übrigen Schiff – wegen der Lebensmittel. Irgendwo gibt es hier auch ein Gewächshaus, aber das hat mich bisher nicht weiter interessiert. Ich war zwei- oder dreimal dort, aber es ist dann doch kein richtiger Garten. Alles geht vollautomatisch. Sicher hätte der ein oder andere von uns gerne gegärtnert. Aber das wäre zu riskant wegen der Keime. So hat es zumindest der Ausbilder in Marseille erzählt. Er sagte tatsächlich nur „… wegen der Keime!“ und damit war die Sache für ihn erledigt. Stattdessen haben sie uns eine kleine Parkanlage spendiert. Da dürfen wir ein bisschen Hand anlegen, Smerg ist sehr oft dort. Er hat ein kleines Beet mit Bonsais und zupft dort stundenlang rum. Niemand kann den Unterschied zwischen davor und danach erkennen. Aber ihm macht das nichts aus. Er zupft und schweigt. Vor dem Weinregal stoße ich gegen seinen Rücken. Er hockt vor den Flaschen und sucht anscheinend etwas anderes als Chateau Isidor. Ich freue mich ihn alleine zu treffen. Schließlich betrachte ich ihn seit unserem Besäufnis auch ein bisschen als Freund. Gleichzeitig hab ich ein schlechtes Gewissen, weil ich die Deutsche an mich rangelassen hab. Andererseits geht es ihn auch nichts an.
„Stimmt!“ prustet der Däne raus. „ich würde sie auch nicht von der Bettkante stoßen!“ Er grinst mich an. „Sach mal gibt’s hier nix anderes als diesen vermaledaiten Isidor. Hängt mir langsam zum Hals raus.“
Wir fangen beide an, die verschiedenen Kartons aufzureißen. Ich öffne sie vorsichtig, damit sie nicht ihre ganze Stabilität verlieren, Der Däne reißt einfach die Deckel ab, um ein bisschen schlauer zu werden. Ich sehe, dass es ihm Spaß macht. Seit dem er seien Ausfall über die dänischen Spiegeleier hatte ist er richtig leutseelig geworden. So als ob ihm eine schwere Last abgenommen wurde. Werde das mal irgendwann zur Sprache bringen. Momentan muss ich die Weinfracht retten.
„Mach mal halt! Da hinten ist was anderes.“
Ich habe einen Karton im Auge, der offensichtlich keinen Isidor enthällt. „Crux Bel Ami“ steht fröhlich auf dem augeklebten Etikett. Ich bohre einen Finger in die Kartonhülle und ziehe ihn hervor.
„Meinste der gefällt dir besser?“
Smergs Pranke greift nach den Karton, öffnet ihn, zieht eine Flasche raus und schlägt den Kopf am Regal ab. Sein Finger fährt kurz über die Bruchstelle, dann hält er die Flasche über seinen Mund und lässt es laufen. Das ganze dauert keine zwei Seekunden.
„Ist ok! Nicht unbedingt besser als Isidor, aber mal was anderes. Gefällt mir der schöne Freund!“
Wie lange es wohl dauert, bis man einen Menschen richtig kennt. Smerg merkt meine Verwunderung.
„Ich war auch mal jung! Das hier hab ich in Kristianstadt gelernt. Konnte man die Mädels mit beeindrucken.“
Er hält mir die Flasche hin.
„Pass auf deinen Lippe auf!“
Doch es ist zu spät. Ich hab die abgebrochene Öffnung an den Mund gehalten und zu dem Wein gesellt sich auch ein bisschen Blut. Smerg hält mir ein Taschentuch hin.
„Hätte ich dir früher sagen sollen! Sorry!“ trotzdem grinst er übers ganze Gesicht. „Na, ich werd mal beim Isidor bleiben!“
Mir ist klar, dass der Däne nicht in dem Zustand ist, sich über die derzeitige Situation zu unterhalten. Er sieht ganz klar nach feiern aus.
„Ach komm, lass uns mal in den Park gehen: Mir ist momentan nicht nach dem ganzen Haufen. Nimm du ruhig deinen Isidor. Ich bin versorgt.“
Ohne weiter Umstände klemmt er die Kiste Bel Ami unter seinen Arm und stapft los. Ich stapfe hinterher. Der Gedanke an Rotwein im Park erinnert mich an meine Jugend und noch heute gibt’s für mich kaum was schöneres als Rotwein im Park. Geistesgegenwärtig raffe ich noch Käse und Brot zusammen. Meinen Zechkumpanen treffe ich vor seinem Bonsaibeet.
„Weißt du, dass der Viladings hier auch gerne gestanden ist? Er hat hier immer seine Augen gerollt und noch zwei drei andere komische Sachen. Hab ihn aber nie gefragt, was das soll.“
„Hat er den auch Gegärtnert?“
„Keine Ahnung, hab ihn nur hier gesehen; oder dich – lass mich mal überlegen.“
Smerg geht auf einen Ecke im Park zu, die für mich nichts Besonderes hat.
„Schau – hier war er auch mal.“
Wir schauen über ein kleines Zäunchen. Dahinter ist ein winziger Garten. Es ist mehr eine Miniaturausgabe eines Gartens. Vielleicht ein paar Quadratmeter groß.
„Hast du das jemals zuvor gesehen?“
„Ja, dachte das hätten sie gemacht, damit der Inder sich nicht so einsam fühlt oder so…“
Smerg schaut mich ein bisschen ungläubig an.
„Du stellst dir wohl nicht allzu viele Fragen?“
„Stimmt ich bin nicht grade neugierig.“
Smerg nickt: „Nee, das hat niemand für den Inder angelegt. Das muss er selbst gemacht haben. Hat mich aber auch nicht weiter interessiert. Hab ja mein eigenes Beet und wenn er mir das hier zeigen wollte, dann hätte er das sicher auch gemacht.“
Er nimmt einen Schluck und schaut mich erwartungsvoll an. Mir fällt ein, dass ich eigentlich den Tod des Inders untersuchen wollte. Jetzt steh ich hier mit einem riesigen Dänen, der dazu auch noch Schlagseite hat.
„Smerg, sei mir nich böse, aber ich glaub ich werd mir das mal anschauen und du würdest mir einen großen Gefallen tun, wenn du mir nicht in den Garten folgst, sondern die Augen offen hältst. Ich möchte das erst mal allein machen.“
Eine idiotische Ausrede, schließlich wird jeder Quadratmillimeter des Schiffes überwacht, aber Smerg geht darauf ein. Er weiß anscheinend selber, dass er die Hucke voll hat und hier nur Unsinn anstellen würde.
28.
Es ist kein Wunder, dass sich niemand um Viladings Garten bemüht hat. Das kleine Gelände ist praktisch nicht zu auszumachen. Zu sehr ähnelt es seiner direkten Umgebung. Fein gestutzte Bäumchen und ein paar Sträucher mit bunten Blüten. Selbst wenn man so wie wir jetzt direkt davor steht fällt erst nach längerem Hinstarren auf, dass es ein eigener kleiner Garten ist und nicht zum Rest gehört. Sobald man ihn dann entdeckt hat, kommt er einem so natürlich vor, dass niemand auf die Idee käme, hier sei was versteckt worden. Auffällige Besonderheiten fehlen und so vergisst man den Garten einfach wieder, Wenn das alles Absicht ist, dann Hut ab. Ich betrete den architektonisch-botanischen Tarnkappenbomber mit entsprechendem Respekt. Ein winziger Weg führt von der Stirnseite zu einem kleinen Altar mit einem fetten Buddha drauf. Links und rechts von dem Buddha trocknen zwei Butterblümchen vor sich hin. Viladings kann sie noch selbst gepflückt und hier hingelegt haben. Er wirkte auf mich zwar wie ein ziemliches Arschloch, aber gut auch die können ja eine romantische Ader haben. Ich schau auf die Rückseite des Altars. Das Ding ist aus Holz. Nicht kitschig, nicht wertvoll. Kann mich grad noch beherrschen, das Teil anzufassen. Bin auf eine Tatortuntersuchung nicht vorbereitet und muss erst die entsprechenden Dinge aus dem Labor holen. Zum zweiten Mal freue ich mich darüber, dass ich heute nicht mit den anderen gesoffen habe. Sonst würde es mir sicher schwer fallen. Ich gebe Smerg kurz Bescheid, auf das Gärtchen achtzugeben, dann bin ich schon im Labor. Meine Lust auf Wein ist erst mal weg. Werde mir gleich ein Bier gönnen. Doch erst mal das hier. Werde Captain Miller wohl nach den Überwachungsvideos fragen müssen. Trotzdem mache ich erst mal Fotos. Dann fang ich an, das Gärtchen systematisch zu untersuchen. Ich erwarte nicht, dort etwas zu finden, aber ich will auch nichts auslassen. Links und rechts des Weges zum Altar sind vier Steinerne Tafeln mit indischen Inschriften. Sie liegen nicht einfach symmetrisch, also einfach gegenüber, jedoch kann ich auch keine geometrische Anordnung erkennen. Werde das von oben fotografieren. Der Altar selbst steht unter einem Kirschbaum, der gerade blüht. Hinter dem Gartengelände sind Rotbuchensträucher gepflanzt. Eines der Geheimnisse des Gartens ist wohl, dass die Pflanzen innerhalb des Gartens mit den Umgebenden korrespondieren. Auch die Rotbuchen und Kirschen, aber auch andere Bäume und Sträucher. Der Boden ist mit einem sehr feinen Rasen bewachsen. Gänseblümchen gibt es hier keine. Nur ein paar Kleeblätter. Insgesamt wirkt alles recht aufgeräumt, ohne dass man daran denken muss, dass jemand den Garten pflegt. Nachdem ich einen 3D-Scan (ja da staunt die Leserin, aber ich hoffe sie lässt sich nicht von ein bisschen Techgeschwafel aufhalten. Die Jungs mögen so was und würden mir einfache Fotografien eh nicht abkaufen) des Altars fotografiert habe, fang ich an das Ding genauer unter die Lupe zu nehmen. Sein erdiges Braun sorgt dafür, dass er erst spät ins Auge fällt. Kerzen oder Räucherstäbchen fehlen. Da sind nur der Buddha und die zwei Gänseblümchen. Ich überlege, ihn hier auseinander zu bauen, verschiebe das aber aufs Labor. Die Steine mit den indischen Inschriften scanne ich ebenfalls ein. Smerg schaut mir interessiert zu. Irgendwie wird er nicht besoffener. „Soll ich dir bei dem Altar helfen?“ Ich könnte das Teil zwar alleine gut schaffen, aber mit Smerg ist es doch wesentlich einfacher. Nach zwanzig Metern trägt er den Altar alleine.
29.
Im Labor schauen wir uns die Bilder an, finden aber nichts Besonderes.
„Willst du weiter machen?“
„Nee, für heut ist gut. Werd mir noch ein Bier gönnen. Die Idee mit dem Park können wir ja demnächst wieder aufleben lassen.“
Smerg scheint nicht allzu enttäuscht.
„Kein Problem. So viel Alternativen gibt’s hier ja nicht.“
„Smerg, ich bin zwar nicht neugierig, aber eins interessiert mich doch. Warum wird eigentlich nicht am Triebwerk rumgebastelt? Ich dachte, das ist kaputt.“
„Ist es auch. Oder noch. Wir lassen grade eine Selbstdiagnose laufen. Das praktische daran ist, dass, sollte sie richtig funktionieren, sie auch das Triebwerk wieder repariert. Ist ein bisschen gespenstisch oder? Na auf jeden Fall können wir jetzt nix machen außer warten. Morgen wissen wir mehr.“ Er grinst mich an. „Sach mal, willste dein Bier allein verdrücken, oder kann ich noch kurz mit?“
„Wenn´s dich nicht stört, dass ich am Rechner sitze und recherchiere, kein Problem!“
Hab zwar nicht grade Lust auf Gesellschaft, aber Smerg macht nicht den Eindruck, dass er mir auf den Sack gehen wird. Wenig später bin ich auf der Homepage des Weingutes Isidor. Leider erfahr ich da nur, dass das Weingut im Bordeaux liegt und dass das Weingut seit 145 Jahren in Familienbesitz ist. Außerdem gibt es das Angebot, die Weinproduktion von 14-16 Uhr zu besuchen. Voranmeldung sei erwünscht. Wie üblich dauert es ein bisschen bis ich die Telefonnummer finde.
„Sach mal Smerg, kannst du französisch?“
Der Riese hat mir die ganze Zeit aufmerksam zugeschaut und meinen Biervorrat reduziert.
„Oui,“ quietscht er kurz. „Was gibt´s?“
Ich erkläre ihm die Situation. Zwei Flaschen Kölsch später wählt er das Weingut an. Es müsste dort 15 Uhr sein. Wir haben September. Smerg flötet in den Hörer:
„Hallo, hier Smerfg Johanson vom dänischen Weinmagazin Gut Trinken. Wir würden gerne einen Bericht über ihr Weingut bringen…. usw,“
Smerg macht seine Sache gut. Soweit ich ihn verstehen kann. Außerdem macht es ihm einen Heidenspaß. Ja man habe alle Etiketten irgendwann mall fotografiert, nur wo die Fotografien jetzt seien und ob sie auch digital vorliegen. Überhaupt wozu sei das denn gut, man habe ja das Design geändert, um nicht mit einem benachbarten Weingut verwechselt zu werden, nebenbei bemerkt ein Wein, der nur schwer diese Bezeichnung verdiene, grausiger Tropfen, trotz all der Auszeichnungen, aber diese Amerikaner wüssten ja wie man Weinkenner besteche, da sei es sicher nicht vorteilhaft, die alten Etiketten wieder hervorzukramen. Eben, eben kontert Smerg geschickt, die Zeitschrift wolle ja gerade das als Hookline seiner Story nutzen und den Leser mit diesem Skandal vertraut machen. Ich nehme ihm die Bierflasche aus der Hand, um klar zu machen, dass er übertreibt. Doch Smerg ist in Fahrt, ich befürchte, dass er gleich von seinen Spiegeleiern faselt und alles in den Sand setzen wird. Tatsächlich, kurze Zeit später höre ich mehrmals hintereinander „Oeuf“. Mir fällt nichts anderes ein, als den Kühlschrank zu öffnen und nach einem weiteren Bier zu recherchieren. Mit dem Ergebnis, dass ich den Raum verlasse um Nachschub zu holen. Das Telefonat hat mittlerweile eine intensivere Färbung bekommen. Smerg rollt mit den Augen und schlägt virtuelle Eier in die Pfanne oder was weiß ich.
30.
Ich hole das Bier aus dem Kühlschrank in der Küche. Die Russin und ihre Co-Pilotin sind mit einander beschäftigt. Hm, dachte eigentlich, sie seien in Ben verknallt. Das hier sieht nicht danach aus. Vielleicht sollte Ben ja als Samenspender herhalten. Ist mir auch egal, wollte eh nur Bier holen.
„Hey, da ist ja der Doc!“ es ist Marias Stimme, die irgendwie erleichtert klingt, „hey, noch auf den Beinen? Lust auf einen kleinen Drink?“
„Wir haben hier noch aufgeräumt,“
Ludmilla klingt wie immer ein bisschen zu leise und gefährlich. Wenn ich die Lage richtige beurteile, möchte mich Maria in der Küche behalten und Ludmilla will mich loswerden.
„Ja ein kleiner Schluck zusammen, warum nicht?“
Ich will eh nicht dabei sein, wenn Smerg alles an die Wand fährt.
„Was steht denn auf der Getränkekarte?“
„Kölsch““ zischt Ludmlla und verlässt die Küche.
„Kölsch? Das passt!“ ich reiche Maria eine Flasche, die sie gekonnt an der Tischkante entkorkt.
„So geht das schon seit Tagen. Ludmilla kann die Finger nicht von mir lassen. Ich meine sie ist eine attraktive Frau und ich würde gerne mal eine Nacht oder auch mehr mit ihr verbringen, doch finde ich, dass das hier nicht der richtige Ort ist. Außerdem ist sie meine Vorgesetzte und da geht das nun mal gar nicht.“
Marias Offenheit überrascht mich ein bisschen. Sie sieht es mir an.
„Na jetzt tu mal nicht so altmodisch. Sex ist gesund und verlängert das Leben.“
„Ja schön!“
Habe mich entschieden auf cool zu machen. Maria gefällt mir immer mehr. Frag mich, was mit Sylvia ist. War das alles nur gesponnen. An Tausendschönchen denke ich auch, doch ist das mehr akademisch. Ich vergleiche sie mit Maria. Die Italienerin hat keine Chance.
„Nun gaff mich nicht so an, wie ein Steak. Mir ist schon klar, dass ich kein Modell bin.“ Sie hat keine Ahnung. Jeder halbwegs taugliche Fotograf würde sie sofort krallen.
„Sorry, aber weißt du eigentlich, wie schön du bist?“
„Arschloch!“
Sie reißt mir den Sechserträger aus der Hand und greift mir mit rechts in den Schritt. Bevor ich mir klar darüber bin, ob mir das gefällt, ist ihr Gesicht direkt vor meinem, sie öffnet ganz leicht den Mund und dann kneift sie mit der rechten Hand ausgesprochen fest zu.
„Was glaubst du eigentlich wer du bist?“
Und schon ist sie weg. Was würde ich jetzt gerne Mädchen schlagen. Stattdessen wanke ich zur Toilette und suche nach bleibenden Schäden. Was war das denn? Sind die alle bescheuert? Breitbeinig erscheine ich mit dem angerissenen Sechserträger bei Smerg, der durstig vor meinem Display lungert und sich die Etiketten des Chateau Isidor anschaut.
„Hast du schon mal Rührei mit Muscheln probiert?“
31.
Jetzt ist Smerg in der Küche. Mittlerweile ist es wirklich spät und ich blättere mich durch die Etiketten, ohne auch nur eine Entscheidung treffen zu können, welches bei meiner Lektüre des Artikels auch im Raum war. Bevor ich vollkommen verblöde ruft mich Smerg in die Küche. Er ist vor zwei Stunden verschwunden und ich dachte er liegt längst in der Kiste. Es riecht nach altem Hafen, Olivenöl und Knoblauch. Auf dem Tisch stehen eine Pfanne, Brot, zwei Gläser und eine Flasche Weißwein. Der Däne drückt mir eine Gabel in die Hand.
„Beeil dich! Je heißer umso besser!“
Sein Mund ist bereits gefüllt
„Hab die Muscheln für dich rausgelöst, ging ja sonst nicht. Hoffe, du ekelst dich nicht.“
Zum Glück hab ich Hunger.
„Nimm am besten eine große Gabel voll. Die Muschel spießt du auf, das Rührei kommt dann schon mit und dann rein in dem Mund. Mit Brot nachschieben und dann den Weißen drauf. So hat´s der bescheuerte Franzose empfohlen.“
Ich kann mich nicht wehren. Zu groß sind Hunger und Däne.
„Nachtmahl?“
Tausendschönchens Stimme schneidet durch den Raum, lässt sich an Töpfen, Pfannen und Geschirr reflektieren um dann in unsere kleine Fressorgie zu platzen. Sie hatte ich ganz vergessen. Smerge bleibt jedoch cool.
„Hei, auch was? Ist der Hammer, danach gehste ab wie ein Zäpfchen!“ zwinkert er los und stellt auch noch ein Glas für sie hin.
„Warum nicht?“
Sie macht wieder auf gesellschaftsfähig. Ihr Blick streift mich und während Smerg unsere Gläser füllt, streicht sie mir kurz über die Wange. Ich kann nicht mitbekommen, ob Smerge was gesehen hat, wundere mich aber auch, warum mir ihre Zärtlichkeiten peinlich sind.
„Habt ihr das mitbekommen, dass ich jetzt das volle Kommando über das Schiff und die Crew hab?“
Smerg bleibt unbeeindruckt.
„Captain Miller erzählte es mir, als wir über Viladings Todesfall sprachen.“
„Ja, der Arme ist nicht grade begeistert, dabei wird sich nichts ändern. Auch wenn ich ohne die Crew dieses Schiff managen könnte. Aber vor dieser Hierarchie-Änderung war es ja auch so, dass ich der Kommandozentrale meine Wünsche mitgeteilt habe und sie es dann an Miller als Befehl weitergeleitet hat. Dieser Schritt fällt jetzt weg. Das ist soweit weg sicher klug, denn wir müssen eine Menge entscheiden die nächsten Tage.“
Sie lächelt leicht verträumt und ich kann nur raten, was in ihrem hübschen Kopf vorgeht.
„Ach mach dir keine Sorgen!“ sie schaut mich jetzt direkt an, „obwohl rein faktisch gesehen bist du der Einzige, dessen Situation sich Grund legend ändert. Bisher hattest du keinen Vorgesetzten. Captain Miller war für die Crew zuständig, ich für die Wissenschaftler. Du gehörst weder zu den einen noch zu den anderen. Jetzt wo ich aber das Kommando über das ganze Schiff habe, fällst auch du darunter. Vielleicht war das der Sinn des Ganzen. Die wollten dir ein bisschen deine Unabhängigkeit rauben.“
Sie lächelt mich immer noch an.
„Vergiss es, ich hab keinerlei Interesse daran, dich an deiner Arbeit zu hindern oder dich zu beeinflussen. Auch glaub ich nicht, dass die da unten einen Schreiberling für so wichtig halten. Sei mir bitte nicht böse.“
„Na dann ist doch alles im Lack,“
Hat sie irgendwas Böses gesagt? Vielleicht wollte sie ja nur ein bisschen provozieren. Egal ich bin stinksauer und kipp den letzten Schluck Weißwein in mich rein. Smerg hat wie immer ein Gefühlt für die Situation:
„Schnaps?“
Sie verzichtet, doch ich brauch einen.
32.
Spätestens an dieser Stelle wird es Zeit, der Leserin ihr Unbehagen auszutreiben, das so langsam von ihr Besitz ergriffen haben sollte. Wie kann es sein? so wird sie sich fragen, dass da eine Weltraummission unterwegs ist und die Besatzung sich ständig einen hinter die Binde kippt, dass das Raumschiff einen anscheinend gigantischen Vorrat an Alkohol und evtl. anderer Drogen mitführt. Oder wie ist es möglich, ein normales Telefongespräch aus dem All zu führen usw… Die Erklärung ist ganz einfach: Seit dem Ereignis, dass für kurze Zeit die Welt durcheinander brachte, hat sich vieles geändert. Technik und Wissenschaft machten erstaunliche Fortschritte. Bestimmte Dinge funktionierten auf einmal und niemand wusste so genau warum. So wurde es auch möglich, ohne Zeitverzögerung Daten egal wie weit durch den Äther zu schicken. Die physikalischen Gründe dafür blieben bis heute verborgen. Klar, es wurden schnell eine Reihe von Thesen und Theorien entwickelt, aber so richtig kapiert es bis heute keiner. Ebenso der Antrieb unseres Raumschiffs. Wäre die Technik in normalen Schritten vorangegangen, so hätte es wohl noch einige hundert Jahre gedauert, doch nach dem Ereignis war es innerhalb weniger Jahre kein Problem, Raumschiffe an die hintersten Ecken des Alls zu schicken. Gleichzeitig änderten sich auch vielerlei Ansichten und eine ordentliche Getränkeausstattung gehörte seitdem zur Grundausrüstung eines Raumschiffs. Alles klar? Dann geht es morgen weiter.
33.
Der Plan heute nüchtern zu bleiben ist in die Hose gegangen. Mir dreht sich alles. Meine Laune ist auf einem Tiefpunkt. Versuche einen klaren Gedanken zu fassen. Gelingt mir nicht. Sollte vielleicht das Denken sein lassen. Das gelingt. Ich schlafe ein. Der Morgen hat für mich schlechte Laune, einen mittleren Kater und Sockengeschmack im Mund vorbereitet. Ich nehme leise fluchend an, Will im Bett liegen bleiben. Bin schlau genug, zu wissen, dass das nichts helfen wird. Meine ungeliebten Begleiter würde es nur freuen. Ich muss unter Wasser. Im Schwimmbecken zieht Sylvia ihre Bahnen. Das hatte ich vergessen. Bin ihr sonst immer gern begegnet. Vielleicht hab ich wegen ihr sogar das Schwimmen auf den Morgen gelegt. Wer weiß das jetzt noch? Das Wasser schlägt kalt über mir zusammen. Ich mache langsame Züge, versuche in einen Rhythmus zu kommen, der mich nicht nach drei Bahnen umbringt. Das fällt mir immer schwer. Doch heute habe ich Glück. Nach der vierten Bahn weiß ich, dass das erst mal so weiter gehen kann. Es fühlt sich gut an, zu spüren, wie die Arme durch das Wasser pflügen und mich langsam nach vorne treiben. Theoretisch könnte Schwimmen ideal sein, um über anstehende Probleme nachzudenken. Den Tod des Inders etwa oder die Situation des Schiffes. Mir gelingt das jedoch nie. Auch jetzt nicht. Kann mich nicht auf etwas Abstraktes konzentrieren. Stattdessen phantasiere ich davon als Extremsportler den Atlantik oder sonst ein großes Gewässer zu durchschwimmen. Infantil, ja, aber es macht Spaß und ohne dass ich es merke verbessert sich meine Laune. Als ich nach einer Stunde endlich aufhöre, sehe ich, dass Sylvia am Beckenrand auf mich zu warten scheint. Ich paddel zu ihr.
„Nicht schlecht! Du bist verdammt schnell,“ lobt sie mich.
Hatte eigentlich nicht das Gefühl, aber als Atlantikschwimmer in spe braucht man jede Aufmunterung.
„Danke! Wie war´s denn noch gestern?“ eigentlich will ich’s gar nicht wissen, aber mir fällt keine bessere Frage ein.
„Bin kurz nach euch abgehauen. Hatte ein bisschen zu viel von dem Prosecco und konnte das ganze Geschwätz nicht mehr hören. Außerdem war Captain Miller ganz schön besoffen und grummelte nur noch so vor sich hin. Ben machte wieder einen auf großen Charmeur und ließ eine Anekdote nach der anderen platzen. Es war zum kotzen. Das hab ich dann auch getan.“ Ich schau sie etwas verwirrt an.
„Nein, nicht vor versammelter Mannschaft! Hab das bei mir erledigt.“
„Wie war eigentlich Svende drauf?“
„Schwer zu sagen. Könnte glatt sein, dass er sich sogar amüsierte. Du weißt, er konnte Jogudings nicht ausstehen. Ach so und die Deutsche war auch noch da und hat brav mit gelacht.“
„Sag mal, woher kennst du eigentlich Ben?“ ich bin selbst überrascht, dass ich das frage.
Sie nicht: „Keine Ahnung, aber es ist so als hätten wir schon mal viel Zeit miteinander verbracht. Kennst du das nicht, dass du Menschen begegnest, die dir nicht nur bekannt sondern auch vertraut vorkommen?“
Ich zucke die Schultern: „Und jetzt?“
„Was soll sein? Wir haben uns gestern über die jetzige Situation unterhalten. Ich wollte ihn mal sprechen ohne dass er vor anderen aufschneiden muss und weißt du was? Es ist gar kein Wunder, dass er so eine Wirkung auf Frauen hat. Wenn du ihn alleine sprichst, dann ist der einfach total nett und intelligent. Er teilt unser Unbehagen, was die Deutsche angeht. Seit dem wir auf der Mission sind versucht er aus den Unterlagen schlau zu werden, die ihm zugänglich sind. Er hat sogar Captain Miller um mehr Informationen angegangen. Nein es war sehr schön gestern. Willst du noch mehr wissen?“
Statt einer Antwort tauche ich unter und greife nach ihren Fesseln. Damit hat sie nicht gerechnet und es gelingt mir sie zu zoppen. Nur ganz kurz, dann lass ich sie los und tauche wieder auf. Dort wartet sie schon, um mir mit aller Kraft den Kopf unter Wasser zu tauchen. Damit habe ich gerechnet und rechtzeitig den Mund zu. Als ich wieder auftauche pruste und huste ich trotzdem. Sie lacht.
„Was hast du heute vor?“
„Werde mich weiter mit dem Viladings befassen. Und du?“
„Weiter die Zeichen auslesen. Wir haben schließlich eine Mission zu erfüllen.“
34.
Beim Schwimmen hatte ich doch einen lichten Moment. Mir ist das Etikett wieder in den Sinn gekommen und ich bin mir sicher, dass der entsprechende Artikel bei einem Isidor aus dem Jahre 1997 erschien. Ich muss also nur zwei Jahrgänge der entsprechenden Publikationen durchforsten. Das macht es schon etwas leichter, aber man kann sich nicht vorstellen, wie viel über Epilepsie geforscht wird. Endlich finde ich den Artikel. „Poison indicated cases of high mortality…“ verfasst von einer Gruppe australischer, indischer und deutscher Forscher. Der Inhalt ist etwa folgender: In den 80er und 90er Jahren gab es unter Schamanen und Geistheilern auf Neu Guinea eine Reihe von Todesfällen. Die Toten wiesen jedes Mal das gleiche Merkmale auf: Genickbruch. Ihnen allen war gemeinsam, so der Artikel, dass sie vor ihrem Tod die Blätter eine Teeähnliche Pflanze verzehrt hatten, die sie üblicherweise als Bewusstsein erweiternde Droge einsetzten. Aus diesem Zusammenhang schlossen die Autoren, dass der Genuss der Blätter, die von den Einheimischen „Niguma“. Genannt wurde, den Tod der Schamanen verursachte. Unklar bliebe jedoch, so die Diskussion am Ende des Artikels, ob es die Blätter alleine waren, oder ob noch andere Faktoren eine Rolle gespielt haben. Schließlich sei davon auszugehen, dass die Geistheiler Erfahrung mit „Niguma“ gehabt hätten. Mehr Mutmaßungen stellen die Verfasser nicht an. Ich suche jetzt die gesamte Datenbank nach Niguma ab. Ich finde genau 23 Artikel, die von 1921 bis 2012 reichen, Im ältesten wird von der hallizugenen Wirkung der Blätter geschwärmt. Dies wird sieben Artikel später – 1967 – von einem nach neuen Drogen fahndenden Hippie bestätigt. Bis 1997 gibt es dann – 1983 – nur noch einen Artikel, der sich mit der Wirkung der Pflanze beschäftigt. Die Autoren beschreiben das Potenzial der Pflanze, als Heilmittel bei Schizophrenie und sonstigem zu wirken. Konkreter werden sie nicht. Erst 1997 taucht die pharmazeutische Wirkung wieder auf. Diesmal ist sie anscheinend tödlich. Danach ist es in der medizinischen Literatur lange Zeit still um Niguma. Erst 2011 versuchen Wissenschaftler der Universität Bumbai die Wirkstoffe der Pflanze zu isolieren. Wieder hoffen sie auf neue Wirkstoffe zur Heilung psychischer Krankheiten. Der Rest sind Artikel von Botanikern, die die Pflanze und ihre Verwandten beschreiben. Niguma wächst anscheinend nur auf Neuguinea und es sei wohl sehr schwierig, sie zu züchten. Die Bilder, die ich finde zeigen ein etwa 20 cm hohes Pflänzchen mit Teeartigen Blättern. Die Früchte sind gut Erbsengroß und hängen an kurzen Stilen. Etwa alle drei Jahre blüht die Pflanze. Die Blüten sind unscheinbar und weiß.
35.
Ich drucke die Abbildungen aus und mache mich auf den Weg zum Garten des Inders. Doch ich komme nicht dahin. Ausgerechnet Maria läuft mir über den Weg. Bevor ich sie blöd anstarren kann plappert sie los:
„Komm in den Antriebsraum. Es gibt ein Problem! Ben ist in den Laserablationsoperator gelangt und sitzt fest,“ informiert sie mich. „Keine Ahnung was genau geschehen ist, aber es ist kein Spaß! Ich hab den Notfallkoffer dabei. Hoffe du kennst dich damit aus.“
Während sie wortlos voraneilt versuch ich mich an die Einweisungen zu erinnern. Da ich der einzige an Bord mit medizinischer Ausbildung bin, war eine der Bedingungen für meinen Mitflug, dass ich die Wehwehchen meiner Mitreisenden behandel. Da ich mit nix ernstem rechnete, war mir das gleich. Doch jetzt wird mir doch etwas mulmig. Ich bin auf den Tod spezialisiert, nicht aufs leben. Beruflich meine ich. Wir erreichen den Antriebsraum. Erst jetzt wird mir klar, was Maria mit „Kein Spaß“ meinte. Bens Kopf und seine Schultern ragen aus dem Boden. Sein Gesicht ist fast blaß, voll Schweiß, ab und zu stöhnt er kurz auf, vielleicht schreit er sogar. Ich weiß es nicht, ist auch egal. Ich reiße Maria den Koffer aus der Hand. Voll das Notfallprogramm auf das ich gedrillt wurde. Wenige Sekunden später ramm ich die Spritze in Bens Halsschlagader. Viel falsch machen kann ich nicht. Seine Adern sind so weit geschwollen, dass selbst ein Blinder sie treffen könnte. Er stiert mich an, während das Gemisch aus Adrenalin, Schmerzmitteln und was weiß ich in seinem Körper zu wirken beginnt.
„Doc du Arschloch weißt du wie lange ich auf dich gewartet hab?“
Es ist eine rhetorische Frage, das spüre ich. Stattdessen nehme ich die Dankbarkeit in seinen Augen wahr. Die Idee, dass er doch nicht so ein Idiot ist, nimmt für kurze Zeit meine Aufmerksamkeit in Anspruch. Die Folge ist, dass ich „Alles gut!“ sage und doch weiß, dass das nun gar nicht stimmt. Ich versuche in das Loch zu blicken, in dem Ben´s restlicher Astralkörper steckt. Jetzt wird es ein bisschen eklig: Wie die Laserstrahlen in einer Dorfdisco züngeln die Laser des Ablationsoperators um seinen Körper und schneiden an ihm rum. Nun fällt mir auch der Geruch nach verbranntem Fleisch auf.
„Scheiße! Warum ist der noch da drin?“ blaffe ich die versammelte Mannschaft an.
„Wir können ihn da nicht rausholen!“
Captain Miller ist alles andere als verkatert. Er ist ganz Captain. Ist wohl auch so ein Programm, das bei ihm automatisch abläuft.
„Kann ihnen das jetzt nicht erklären, nur soviel: Ben ist in die Mühle geraten, als das Regenerationsprogramm anlief. Wenn wir ihn da rausholen, dann wird die Messung, die der Antrieb zur Selbstreparatur benötigt hinfällig.“
„Ja und? Dann schmeißt das Ding doch einfach wieder an!“
„Geht nicht!“ fährt Ben dazwischen. Die Schmerzmittel scheinen zu wirken. „Es ist einfach so, dass wir nur einen Lauf haben. Die Idioten haben das so konstruiert. Wenn ihr mich rausholt, dann gibt’s keine Messung, keine Reparatur, keine Heimkehr, so einfach ist das!“
Ich blicke mich um. Meine Augen treffen die Deutsche.
„Niemand hat damit gerechnet, dass eine Selbstregeneration des Antriebs nötig sein wird, deswegen hat man da wohl ein bisschen geschlampt. Captain Millers und Bens Entscheidung, den Messvorgang nicht zu unterbrechen hat meine Zustimmung.“
Ich hasse sie aus tiefstem Herzen. Nicht, weil ich mich benutzt fühle, nicht weil sie Ben grillen lässt. Es ist ihre Stimme, die jedes Bedauern vermissen lässt. Bevor ich etwas sagen kann, fährt sie fort:
„Wir haben hier an Bord doch alles; da sollte es doch möglich sein, Ben zu helfen.“
Ich starre sie an. Es ist hoffnungslos. Die Entscheidung ist gefallen.
„Wann hört das Geschmore auf?“
Svende übernimmt den Job mir das mitzuteilen:
„So ungefähr dann, wenn von Ben nur noch Kopf und Schultern übrig bleiben.“
Mir wird übel, gleichzeitig durchrasen die medizinischen Möglichkeiten meinen Kopf.
„Wie lange dauert das?“
„Nicht ganz sechs Stunden!“ ist die lakonische Antwort des schwedischen Zwergs.
Ich muss handeln.
„Maria, kannst du mich die nächsten sechs Stunden unterstützen? Smerg, Sylvia? Euch brauch ich auch! Wir brauchen die Krankenstation hier unten. Alles! Schmeißt den toten Inder irgendwohin. Für den kann ich nichts mehr tun. Ach so, ich brauch hier noch einen Zugang zur 3D-Fräse.“
Ich warte nicht auf eine Antwort, stattdessen beginne ich mit Hilfe des Notfallkoffers einen provisorischen Kreislauf aufzubauen. Daran haben sie wenigsten gedacht. Seinen Kopf können wir mit etwas Glück retten. Stellt sich die Frage, ob Ben das wirklich will. Naja, wehren kann er sich auch nicht, also klemmen wir ihm die Schläuche an die Halsschlagadern und hauen den Enervator in seinen 5. Halswirbel. Das System ist so aufgebaut, dass es dem Hirn – und auf das kommt es jetzt wohl nur noch an – einen funktionierenden Körper vortäuscht. So haben sie es zumindest in der Schulung erzählt. Allerdings konnte mir keiner versprechen, ob das wirklich funktioniert. Deswegen muss die Krankenstation hier runter. Mit den Apparaten von da stehen die Chancen wirklich nicht schlecht. Es ist einfacher, sie alles hier aufbauen zu lassen, als abzuwägen, was ich benötige oder es gar noch zu erklären. Ich beuge mich zu Ben:
„Bevor ich mit der ganzen Scheiße hier weitermache, sag mir bitte, ob du heut sterben möchtest?“
„Doc, du kannst mich doch eh, nicht krepieren lassen also mach einfach, was geht. Wenn ich die Schnauze voll hab, reiß ich die Schläuche mit den Zähnen raus.“
Er grinst tatsächlich.
„Ach so ich vergaß, wenn die Lasers meinen kleinen Freund grillen, sagt mir doch bitte Bescheid, ich will wissen, wie er riecht!“
Zumindest bleibt er sich treu und mir ist das erst mal angenehmer, als wenn er jetzt auf ernst machen würde.
36.
Denke mal, ich muss kurz erklären, was da los ist und warum wir nicht länger über alles gesprochen haben. Erstens: Wir hatten keine Zeit. Zweitens: Habe ich kein Wort von dem verstanden, was mir Svende zur Begründung der misslichen Lage später erzählte. Nur soviel, dass die Laser in mehr oder weniger elliptischen Kreisen den Raum im Ablationszylinder vermessen müssen, um den entscheidenden Einstellwerte des Antrieb neu zu bestimmen. Dieser Vorgang ist äußerst kompliziert und kann nicht angehalten werden. Zumindest nicht mit der Software, die zurzeit verfügbar ist. Ein Update sei sicher irgendwann möglich nur sei es nicht klar, ob das funktionieren würde. Auf jeden Fall sei es ein so außergewöhnlicher Schaden, dass nur ein einziger Messvorgang vorgesehen ist. Ben ist da rein geraten, weil der Messvorgang nicht ferngesteuert werden könne. Er musste alles von Hand starten. Warum er dafür ausgerechnet in den Strahlengang der Laser gehen musste ist ein Rätsel. Aber so wie der Zylinder konstruiert ist, könne es auch gut sein, so Smerg, dass es gar nicht anders ginge. Dabei zeigt er mir eine Skizze auf dem Bildschirm, die verdeutlicht, dass es eigentlich unmöglich ist, nach Einschalten des Messvorgangs wieder den Zylinder zu verlassen. Alles was sich darin befindet wird in die Messung einbezogen. Also auch Bens Körper. Hätte Ben es aus dem Zylinder geschafft, wäre die Messung im Eimer. Damit ihm das nicht gelingt ist oben am Zylinder eine Art Irisblende, die den Raum verschließen soll, sobald das Messprogramm gestartet wurde. Der 1. Offizier war aber schneller, als vorgesehen und gelangte so in die schließende Iris. Die Laser bewegen sich seitdem durch den Raum und treffen ab und an auf den armen Ben. So ist die Situation und wir können sie nicht ändern, wenn wir überleben wollen.
37.
Die nächsten Stunden verbringe ich also mit Ben und während ich ihm erkläre, was ich vorhabe, erfahre ich so einiges über ihn. Doch zuerst mal mein Plan. Da es möglich zu sein scheint, seinen Kopf zu retten, muss es doch auch möglich sein, ihm hier einen neuen Körper zu basteln. Dank der 3D-Fräse gibt es wohl keine Grenze, was die Bauteile angeht. Die Pläne für solche Vorhaben liegen vor. Auf der Erde ist so was allerdings undenkbar. Ethische Bedenken usw. haben bisher alle praktischen Anwendungen verhindert. Sicher, es gab den einen oder anderen Versuch; daher auch die Pläne. Doch so richtig umgesetzt hat es niemand, zumindest offiziell. Ist auch egal, auf jeden Fall weiß ich genug über den menschlichen Körper, um es zu wagen. Zur Not bleibt halt ein Ben im Rollwagen. Ben hört mir aufmerksam zu.
„Doc biste etwa ehrgeizig? Hab dich eigentlich für einen netten Looser gehalten.“
Mir fällt nix ein:
„Ach halt einfach die Fresse!“
Dabei will ich das gar nicht. Ben beginnt mich zu interessieren. Ist es, weil er grad von den Lasern zerfressen wird? Oder weil da doch mehr ist, als ein Typ, der mir überlegen scheint?
Ich seufze: „Nee, erzähl mir was! Wenn ich schon an dir rum bastele, möchte ich wenigstens wissen, ob es sich lohnt.“
„Wo soll ich anfangen? Ok, vergiss es, wir tun ganz einfach so, als seien wir allein und du bist der Freund, den ich mir immer gewünscht hab!“
Er lacht. Ich wittere einen Hinterhalt und schau in an. Dann muss ich selber lachen bis mir die Tränen kommen. Kleiner Einschub: Das klingt jetzt so, als ob ich neben Ben sitze und ihm Händchen halte. Ist aber nicht so. Ich lese die Manuals der Maschinerie, die ich um ihn aufbaue, damit ich keine Fehler begehe, gebe Anweisungen, was wohin gestellt werden muss und mache noch eine ganze Menge mehr. Eben alles was getan werden muss, um die provisorische Lebenserhaltungskiste gegen eine vernünftige auszutauschen. Normalerweise wäre ich selbst mit dem Lesen überlastet, doch ich steh unter dem Einfluss einer alles fördernden Droge, die auch im Notfallkoffer zu hause ist. Also weiter zu unserem Gelächter:
„Weißt du, wie sich das anfühlt, wenn du einsam bist?“
Ben schaut mich an. Ich kann ihm nur einen Augenwinkel widmen, also fährt er fort:
„Ich meine nicht allein, ich meine, es sind Leute um dich, Frauen, Männer, intim, nicht intim, ganz egal, du bist einsam. Du merkst es nicht sofort. Es dauert, doch dann stellst du fest, es ist nicht du, der in Gesellschaft ist, es ist deine Fassade. Dann fragst du dich, wer bist du? Du kannst nicht mehr unterscheiden. Was wollen die anderen sehen? Was willst du zeigen?“
Verdammter Mist, da hab ich mir was eingehandelt. Jetzt hab ich nicht nur einen Schönling unterm Messer, sondern auch einen Philosophen mit Selbstzweifeln. Ich kann mich grade noch beherrschen, ein zustimmendes „Kenn ich“ zu brummen.
Stattdessen schau ich Ben nur fragend an.
„Hältst mich jetzt sicher für einen Philosophen mit Selbstzweifeln. Hab ich auch lange Zeit. Hat mich damals die Ehe mit der besten Frau auf der Erde gekostet. Ich wusste nicht, liebt sie mich, oder das was ich vorgebe zu sein. Ab da ging nix mehr. Wir haben uns getrennt. Was will eine Frau mit einem Philosophen? Die ganzen Geschichten, die so erzählt werden, hab ich selbst in die Welt gesetzt. War nicht schwer, bei dem Ruf den ich hatte. Die Mädels, die ich abgeschleppt habe, sind alle heil nach hause gebracht worden. Die wollten nicht zugeben, dass da nix war und ich auch nicht. So einfach ist das. Alle halten mich für den Beischläfer vom Dienst und ich hab meine Ruhe. Hab auch schon überlegt, ob ich schwul bin. Keine Angst, ist nicht der Fall. Finde Männer einfach nicht attraktiv – nichts gegen dich! Na egal! Auf jeden Fall war mein Ruf recht hilfreich dabei, raus zu finden, wer ich wirklich bin.“
„Soso,“ ist alles was mir einfällt.
„Na hör zu Doc, das Ding ist doch, dass ich gar nicht zu mir selbst finde, wenn ich dauernd die Nummer mit dem dauergeilen Charmeur abziehe.“
„Was nu? Weißte jetzt, wer du bist oder nicht?“
Ich bin selbst erstaunt, dass ich ihm so zusetze. Immerhin kann er jeden Moment das Handtuch werfen und dann hat er noch nicht mal was Nettes im Ohr. Er nimmt´s gelassen:
„Du kapierst nicht. Ich komm natürlich nur zum Nachdenken, wenn ich allein bin. Weit weg von allem. Manchmal hab ich auch Glück. So wie mit Sylvia. Wir verstehen uns. Das ist, als ob wir eine Person sind. Ist der Hammer. Naja bei ihr bin ich auch der Mensch, für den ich mich halte. Ich rede keine Stuss daher. Mach nur ab und zu ein paar dumme Witze, kann zuhören. Bin interessiert an dem was passiert, was sie erzählt. Wenn ich allein bin, versuch ich Ordnung in die Dinge zu bringen, die mich umgeben. Ich lese, höre Nachrichten. All das was ein gebildeter Mensch auch tut. Dann mach ich mir einen Reim draus, versuche vielleicht einen guten Gedanken zu finden, der nicht nur gut für mich, sondern auch gut für andere ist.“
Bens Worte fließen in mein Hirn, versucht der Dödel mir etwa weiß zu machen, dass vollkommen normales Verhalten etwas Besonderes sei?
„Ja es ist nichts Besonderes. Genau das ist der Punkt. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass nichts Besonderes an mir dran ist. Apropos, kannste mal nachschauen, wo die Laser grad rummachen?“
Mittlerweile bin ich soweit, dass ich den gesamten Ablationszylinder inklusive Bens Körper vor mir auf dem Bildschirm hab. Die fünf Laser ziehen weiter ihre idiotischen Messkreise. Immer wieder reduzieren sie dabei Bens Körpergewicht um ein paar Gramm. Auf dem Bildschirm ist das dann als kleines Rauchwölkchen zu sehen. Ist nicht lustig. Auch nicht, dass Ben sich um seinen kleinen Freund erst mal keine Sorgen machen muss. Die Laser sind noch mit seinen Beinen beschäftigt.
38.
Sicher wird sich die Leserin jetzt fragen, warum ich mit Ben nicht über seine Recherchen bezüglich unserer Mission rede. Wahrscheinlich wäre das klüger. Schließlich bin ich doch eigentlich auf der Suche nach den Guten und da könnte mir Ben ja wertvolle Tipps geben. Um ehrlich zu sein, ich denke überhaupt nicht an den Sinn unserer Mission. Ist mir vollkommen egal. Spielt keine Rolle. Jetzt geht es nur noch um diesen Typen, der hier langsam verschmort. Deswegen palavern Ben und ich über sein bescheidenes Seelenleben. Deswegen machen wir dumme Witze. Deswegen bin ich jetzt hier. Später werde ich mir nicht sicher sein, ob das nicht eine etwas leichtfertige Herangehensweise an einen langsam verschwindenden Informanten ist.
39.
Während Ben mir also dieses wirre Zeug erzählt, haben Sylvie und Smerg die gesamte Apparatur um mich aufgebaut. Ich gebe Ben Bescheid, dass er mal kurz die Klappe halten muss. Wir müssen ihn jetzt umstöpseln, da kann ich sein Geplapper nicht gebrauchen. Sylvia beugt sich zu ihm. Sie ist sichtlich mitgenommen; wahrscheinlich würde sie am liebsten laut schreien und heulen, doch sie hält sich tapfer. Was sie reden, will ich nicht hören. Es ist auch zu leise, stattdessen höre ich Smergs Stimme:
„Wann willst du die Verbindungen tauschen?“
„Am liebsten sofort,“ antworte ich.
„Wir sollten aber vorher den Ablauf ein oder zweimal durchspielen. Es dauert was und wenn wir nicht wollen, dass Ben noch blöder wird, dann ist es gut, wenn es schnell geht.“
Sylvia hat das gehört und wirft mir einen giftigen Blick zu.
„Kannst du nicht einmal deine blöden Witze lassen?“
Sie hat Recht, doch hier bin ich Chef und ich habe keine Lust mir den Spaß nehmen zu lassen.
„Komm bitte kurz hoch und hör genau zu. Wir spielen die Handgriffe jetzt zweimal durch. Du musst dabei die Zeit stoppen. Maria wird mir die Anschlüsse der stationären Überlebenskiste rüberreichen. Smerg, du nimmst die abgestöpselten Anschlüsse und hältst sie aus dem Weg. Aber nicht so weit, dass wir zur Not nicht zurückkönnen.“
Die drei nehmen die ihnen am besten erscheinenden Positionen ein. Ich bin ganz nah bei Ben.
„Sag mal Doc, du gibst doch dein bestes oder?“
Zum ersten Mal schaut er nicht mehr so Gott verdammt souverän. Ich meine, auch ein bisschen kalten Schweiß zu riechen. Mir düsen jede Menge aufmunternder Formulierungen durch den Kopf – Kopf hoch! – hei ich mach das! – Klar geb ich mein bestes! – Wenn nicht jetzt wann dann! – eine bescheuerter als die andere. Deshalb höre ich mich nur
„Halt die Fresse!“ sagen.
Sylvias Augen durchbohren mich, wie die Laser Bens Körper. Ich bin immun, denn ich bin Chef und da darf ich nicht schwächeln.
„Alles klar Doc,“ Ben hat mich verstanden: „kannst du trotzdem mal ein bisschen was an der Betäubungsschraube drehen. Ich bekomm langsam so ein Kribbeln in den Beinen.“
Kann eigentlich nicht sein. Ein Blick auf den Monitor zeigt mir, dass Bens Beine nicht mehr existieren. Die Schmerzen müssten aus seinem Unterleib kommen.
„Ben, diesmal ist es kein Spaß. Erstens: Schmerzmittel sind grade jetzt nicht angesagt und zweitens ist dein Pimmel gleich Rauch!“
Ich muss aufpassen, dass Sylvia mir nicht meinen rausreißt. Sie hat keinen Spaß an meinem Geschwätz.
„Er wollte es unbedingt wissen!“ versuche ich die Situation zu deeskalieren und bevor sie mir zeigen kann, dass das nicht funktioniert, gebe ich die Kommandos für den ersten Probelauf. Wir brauchen gut 20 Sekunden. Wenn da jetzt noch ein bisschen rumfummeln am Enervator dazu kommt, dann ist Bens Kopf gut 30 Sekunden vom Körper isoliert. Das ist zu lange. Wir wechseln ein bisschen die Positionen. So ist es besser: 15 Sekunden. Langt aber bei weitem nicht. Ich lasse wiederholen: 13 Sekunden. So bringt das nix. Mein Team ist so lahm wie eine Schnecke auf dem Wüstenboden.
“Sorry, hab nicht dran gedacht! Nehmt euch bitte was von dem Zeug!“
Ich halte ihnen die Superdroge aus dem Notfallkoffer hin. Ben ist mittlerweile leichenblass.
„Doc, jetzt tut es langsam richtig weh!“
Statt einer Antwort schau ich auf den Monitor. Meine Finger gleiten über die Tastatur. Bei allem achte ich darauf, dass Ben es mitkriegt. Er soll wissen, dass ich mich um ihn kümmere, das hilft.
„Es ist ein bisschen was drin. Sollte deine Situation etwas verbessern. Aber erwarte kein Wunder.“
Ich tu so, als ob ich an einem der Regler drehe. Gleichzeitig wandert auf dem Monitor für Ben sichtbar die Anzeige hoch. Nichts ist leichter reinzulegen als Schmerz.
„Wir haben noch fünf Minuten, dann werden die Chancen immer schlechter, dass wir Ben an die große Kiste dran bekommen. Also los!“
Wir schaffen es diesmal in nur 8 Sekunden. Nach drei weiteren Durchläufen sind es fünf. Wir müssen es riskieren. Mir fällt ein, dass ich das Öffnen des Bajonettverschlusses noch üben sollte. Die anderen schauen mich entgeistert an. Hilft nix, muss sein. Nach drei Testversuchen, bin ich sicher, dass die Wechsel nicht allzu lange dauern werden. Es sind nur drei Anschlüsse. Ich nagele Ben die Spritze mit dem Gemisch aus Adrenalin und Codein und was weiß ich in die Halsarterie. Er starrt mich an. Ich habe keinen Blick für ihn, doch das ist nicht nötig. Sylvia streicht ihm kurz über die Wange, dann geht es los. Ich packe die beiden Kreislaufverbindungen, drehe kurz und halte die gelösten Enden Smerg hin. Sofort hab ich die gleichen Anschlüsse in der Hand und schraube sie an Bens Hals. Es ist eine ziemliche Sauerei. Damit habe ich nicht gerechnet. Wir verlieren vielleicht eine halbe Sekunde, bis ich mir selbst und den anderen klar gemacht hab, dass es egal ist, wenn hier Blut rumspritzt. Auf den Umschluss hat das keinen Einfluss! Schreie, blicke, denke ich. Die Kreislaufverbindungen sind fest. Meine Hand greift den etwas Bananen großen Zylinder des Enervators, der in Bens Hals steckt. Vom Blut ist alles glitschig. Diesmal habe ich damit gerechnet. Diese Gott verdammte Droge ist der Hammer. Smerg reißt mir den Anschluss aus der Hand. Maria drückt mir den neuen in die Hand. Ich ramme das Teil in den Rest des Zylinders, der noch in Bens Halswirbelsäule steckt. Mit einem kurzen Sprung, der Maria umschmeißt bin, ich am Terminal und schau auf die Anzeigen. Mehr kann ich nicht machen. Sylvia starrt mich an. Maria rappelt sich auf. Smerg ist der einzige, der nicht mit sich selbst beschäftigt ist. Er steht neben der ambulanten Lebenserhaltungskiste und wartet auf seinen Einsatz. Ein Blick auf die Anzeigen sagt mir, dass das nicht nötig sein wird, Bens Hirn hat den Geist aufgegeben. Ich schließe die Augen. Wo war der Fehler? Das Blut? Es hat nicht so viel Zeit gekostet. Oder doch? Wie ein Roboter marschiere ich auf Smerg und die ambulante Kiste los. Beiseite stoßen kann ich ihn nicht. Brauch ich auch nicht. Er gibt mir den Defribilator. Warum nicht? Vielleicht hilfts. Mir fällt nix besseres ein und Smergs Reaktion zeigt mir, dass er den Ansatz für leidlich richtig hält. Ich halte die Elektroden an Bens Schläfe, brülle
„Jetzt!“
Es riecht noch deutlicher nach verkohltem Fleisch und versengten Haaren. Den Anzeigen auf dem Monitor ist das egal. Arschlöcher. Ich starre auf Bens Gesicht. Es ist friedlich. Abgesehen von den verkohlten Schläfen scheint ihm nichts zu fehlen. Sylvia nimmt mir die Elektroden aus der Hand. Sie schaut mich traurig an. Dann falle ich um.
40.
Ich träume. Zwei Kinder laufen um die Wette. Ein Junge und ein Mädchen. Sie werden verfolgt. Der Junge fällt immer wieder hin, kann sich aufrappeln, aber seine Beine sind machtlos. Sie laufen ins leere. Er fällt wieder. ich rufe ihm zu: Beweg dich! Lauf! Doch der Bengel kommt gar nicht richtig hoch. Es ist, als wolle er im Liegen laufen. Je mehr ich ihn ansporne, umso mehr wird mir bewusst, dass ich der Junge bin. Verdammte Scheiße, kann ich nicht mal was Originelles träumen. Was mit Drachen oder wenigstens ein paar Robotern. Ich öffne ein Auge. All zu lange hab anscheinend nicht geschlafen. Sylvia schaut mich immer noch traurig an. War wohl bloß ne Sekunde oder so. ich rappel mich hoch:
„Scheiße!“ , versuche die Situation zu erfassen.
Die Anzeige so tot wie das Bett einer Nonne. Der Raum ist erstaunlich voll. Wusste gar nicht, dass wir Platzkarten vergeben haben. Was war der Fehler? Bens Kopf steht immer noch erstaunlich grade auf den Schultern. Kann das Arschloch nicht wenigstens im Tod aufhören mich zu verarschen. Ben wird wissen, dass das nicht gegen ihn gemünzt ist. Wir hatten es in den letzten Stunden geschaffte, eine erstaunlich weite Ebene zwischen uns zu spannen. Getragen von Kraftausdrücken und Beleidigungen haben wir uns schätzen gelernt, weil wir beide wussten, dass wir uns ähnlicher sind, als wir je zugeben werden. Ich hab zum Beispiel die gleich Nasenhaarfarbe wie er und Bens Ohren sind meinen recht ähnlich: Es sind auch zwei.
„Doc!“
Mir ist klar, dass ich momentan besser die Finger von allen lassen sollte, mit dem sichSchaden anrichten lässt.
„Doc!“
Muss unbedingt mal den Beipackzettel dieser tollen Droge aus dem Notfallkoffer lesen. Das Zeug scheint noch für was anderes gut zu sein.
„Doc!“
Das ist Bens Stimme. Ich drehe mich in seine Richtung. Er scheint mir zuzuzwinkern. Kopf rum, auf die Anzeigen geschaut: Nix! Kopf zurück. Ben grinst
„Hei Doc, alles klar?“
Was soll das? Halluzinationen? Gut, jetzt lassen wir´s mal gut sein. Könnte natürlich noch ein paar Zeilen den Ahnungslosen spielen. Aber, um ehrlich zu sein, jede Leserin, die es bis hierhin geschafft hat, wird dieses Spielchen ziemlich affig finden. Deshalb mach ich’s lieber kurz. Ben hat die Operation fürs erste überlebt. Die Nummer mit dem Defibrilator hat wohl geholfen. Dabei sind aber nicht nur die Haare an seinen Schläfen durchgeschmort, sondern auch die Messelektroden. Deswegen gab es keine Anzeige auf dem Display. Das ganze hin und her, ab dem Moment, wo ich mich auf die Schnauze gelegt hab, hat ca. 20 Sekunden gedauert. Niemand hat meinen Zustand bemerkt, außer Sylvia vielleicht. Es hat übrigens niemand applaudiert. Wir haben einfach weitergemacht und Ben am Ende der Reparaturmessung aus der Iris befreit. Er hat sogar ein bisschen Glück gehabt. Ein Arm blieb ihm erhalten. Er ist sich noch nicht so ganz einig, ob ihm das gefällt. Sein Zustand ist stabil. Ich liege im Bett und hoffe dass das erst mal so bleibt.
41.
Eine Hand rüttelt an meiner Schulter. Ich habe nicht richtig geschlafen, doch ich schrecke zusammen. Es ist Tausendschönchen. Ein Blick auf die Stereoanlage zeigt mir, dass Musik laufen muss. Erst jetzt nehme ich sie wahr und schalte sie aus.
„Hei! Was gibt’s?“
„Erzähl ich dir, wenn du richtig wach bist.“
Es hat keinen Zweck, irgendwas vorzubringen, Stattdessen gehe ich ans Waschbecken und klatsche mir kaltes Wasser ins Gesicht. Mir fällt auf, dass ich nackt bin. Möglichst elegant werfe ich mir das nächste Handtuch um, das ich greifen kann. Dann stelle ich die Kaffeemaschine an und warte auf zwei Espresso. Die Deutsche ist wieder in Zivil. Wie gehabt sieht sie hinreißend aus. Ist mir egal, versuch ich mir einzureden. Stattdessen merke ich, dass ich sie anstarre. Sie auch.
„Na komm! Das war große Klasse heut. Gut, dass du dabei bist.“
Irgendwas stimmt nicht, an der Art, wie sie das alles sagt. Es sind die Worte und Sätze, die man in so einer Situation redet. Ja, aber ich habe nicht das Gefühl, als käme es aus ihr. Sie scheint mein Unbehagen nicht zu bemerken und plappert munter weiter.
„Meinst du er wird durchkommen?“
Verdammter Mist! Jetzt schaut sie mir auch noch tief in die Augen. Mit Wimpernaufschlag, Kuhaugen und all diesem „ich bin besorgt“-Scheiß. Wie eine abgehalfterte Politmoderatorin aus dem Fernsehen. Was kommt noch alles? Ich erfahre es, während ich dabei bin, eine passende Antwort zu finden. Soll ich sagen, dass sei mir egal, dass wisse ich nicht oder ja, ja, sicher!? Die geneigte Leserin kann ruhig was ankreuzen, ich komme nicht dazu was zu sagen. Denn das Superhirn schiebt ihren sagenhaften Körper immer näher an mich ran und mir wird bewusst, dass ich nur ein Handtuch zur Verteidigung habe.
„Hei komm, was ich in der Küche gesagt habe, war doch nur, um dich zu provozieren. Du weißt genau, dass ich dir näher stehe als irgendwem sonst hier.“
Ihre Hand berührt meine Wange. Ich bin nicht bescheuert. Mir ist klar, dass die Deutsche hier eine ziemliche Schmierenkomödie abzieht. Ich denke noch über mögliche Abwehrhandlungen nach. Schaffe es sogar, den Kopf etwas von ihrer Streichelhand zu entfernen und auch einen Schritt zurückzugehen. Denke mal, ich bin so auf gut zwölf Zentimeter Raumgewinn gekommen, als ich feststellen muss, dass ich ein recht schwacher Mensch bin. Sie rammt mir ihre Zunge in den Hals und ich verliere das Handtuch. Später sind all meine klugen Beobachtungen und Zweifel unter einer großen Schicht Hormone vergraben.
„Komm mit!“
Sie steht im Bruchteil einer Sekunde auf. Ich schaffe nur einen kurzen Blick auf ihren Körper; dann ist sie angezogen. Ich folge ihr.
42.
„Du fragst dich sicher, warum wir hier sind.“
Mache ich nicht, aber ich lasse sie gewähren. Sie zeigt mit dem Arm auf die Mitte einer sehr eindrucksvollen Projektion aus Sternen, Galaxien und anderem Weltallkram.
„Aha?“ mache ich. Dann erkenne ich das Doppelspiegelei.
„Du meinst die beiden Sterne?“
Eigentlich hatte ich was neues erwartet.
„Ja, im Prinzip schon. Nur geht es nicht um die Sterne selbst. Es geht um den Prozess in dem sie sich befinden!“
Sie sagt das tonlos. Mir fällt auf, dass sie sich nicht die Mühe gibt, Emotionen zu zeigen. All ihre Erregung liegt in ihren Worten von denen ich leider kaum was verstehe; aber sie ist jetzt nicht mehr zu stoppen. So etwa am Ende ihrer Ausführungen lässt sie sich auf meinen Horizont herab und ich wache langsam wieder auf. Vielleicht auch, weil sie meine Schultern mit beiden Händen gepackt hat:
„….verstehst du es geht hier um die Vereinigung zweier Sterne die beide für sich genommen so energiereich sind, dass sie alle uns bekannten Schwarzen Löcher verspeisen könnten, ohne auch nur merklich an Energie zu gewinnen. Das heißt wir haben hier ein Phänomen vor uns, wie es so noch nie in der Geschichte des Universums gegeben hat. Auf diesen Moment warte ich seit meiner Geburt.“
Um nicht allzu blöd zu erscheinen, mache ich ein verständnisvolles Gesicht. Schließlich wartet jeder von uns seit seiner Geburt auf irgendetwas. Das Essen, den Bus, Erkenntnis. Ich halte etwa zwei bis drei Sekunden lang durch. Wie verberge ich nur, dass mir das alles ziemlich egal ist? Unmöglich, das merkt Tausendschönchen auch. Sie lächelt:
„Gib dir keine Mühe. Mir ist klar, dass das alles für dich keine Bedeutung hat. Sicher ein Grund, warum du mir so gefällst. Aber ein bisschen was solltest du schon verstehen.“
Ich nicke treudoof.
„Ich will es mal kurz machen,“ fährt sie fort. „Wir sind hier, um den Raum zwischen den beiden Sternen zu vermessen: Entfernung, Schwerefeld, Teilchendichte, Strahlung und noch eine Menge anderer Parameter die dir wahrscheinlich nichts sagen werden. Nach allem was man bisher weiß, müssten sie irgendwann in einander stürzen und sich in einer gigantischen Explosion gegenseitig vernichten. So was wie ein Urknall. Vielleicht nicht ganz so heftig. Aber immerhin gewaltig. Tatsache ist aber, dass die beiden Sterne keinerlei Anstalten machen. Der Abstand zwischen ihnen bleibt exakt gleich. Zumindest seit dem Schwere-Ereignis; also seit ihrer Entdeckung. Die Frage ist also: Sind unsere Messinstrumente zu schwach, um etwas festzustellen oder gibt es einen anderen Grund.“
Sie schaut mich an, um zu überprüfen, ob ich auch alles verstanden hab. Um nicht all zu blöd dazustehen frage ich sie:
„Und was denkst du?“
„Noch gar nichts! Ich warte die Messungen ab. Wir sind noch nicht lange genug hier, um irgendwelche Spekulationen anzustellen.“
„Warum so bescheiden?“
Erst jetzt merke ich den süßlichen Schnapsgeruch, Hergeson lehnt sich lässig in die Tür. Zumindest so lässig, wie es seine verwachsene Figur zulässt. Die Deutsche gibt sich unbeeindruckt.
„Hergeson?! Na, im Gegensatz zu Ihnen versuche ich auch jetzt noch einen klaren Kopf zu behalten. Das heißt auch, dass ich all meine Thesen über Bord werfe und erst mal analysiere. Egal für wie toll ich meine Ideen auch halten mag!“
Hergesons Gesicht nimmt einen Ausdruck an, den er wahrscheinlich für verächtliches Grinsen reserviert hat. Es macht ihn nicht attraktiver.
„Hört, hört! Die große Naturforscherin besinnt sich auf alte Tugenden. Na ja, vielleicht hast du auch recht. Auf die paar Tage kommt es auch nicht mehr an. Aber gestattest du, dass ich unseren naiven Freund ein bisschen aufkläre?“
„Warum nicht? Versuch dein Glück. Aber lass mich aus dem Spiel.“ Und zu mir gewandt: „Es wäre ein leichtes, ihn aufzuhalten, aber mir ist nicht danach.“
Was sie damit meint, verrät sie nicht. Mit einem kurzen Blick auf die beiden Spiegeleisterne verschwindet sie. Wie so oft bei ihr, kann ich keine Bewegung wahrnehmen.
43.
Die Fahne des Schweden kriecht an mich ran. Dicht gefolgt von Hergeson. Er ist mir nicht sonderlich sympathisch, aber ich habe auch nichts gegen ihn. Außerdem ist sein Schnaps ein echtes Ereignis. Er reicht mir den Flachmann.
„Trinken Sie lieber einen Schluck!“
Obwohl ich nichts trinken will, kann ich nicht widerstehen. Wer weiß, wann die Quelle versiegt.
„Es ist im Prinzip ganz einfach: Unsere kleine Supermaus hängt im Grunde einer Idee nach: Das Holographische Universum. Es gibt jede Menge Definitionen und Theorien dazu. Am Ende bleibt der Grundgedanke, dass sich das ganze Universum als eine einzige Fläche darstellen lässt. Komplex und zigfach verschränkt zwar. Aber am Ende doch eine popelige Fläche. Und da liegt der Hund begraben. Stimmt dieser Gedanke, dann lässt sich das Universum mit einer einzigen Formel bestimmen. Alles klar?“
Ich nicke, obwohl ich gar nichts verstanden habe.
„Na ja! Niemand kennt die Formel und eins ist auch sicher: Die Formel wird so kompliziert sein, dass kein Mensch sie je verstehen wird. Andererseits – Wer weiß, ob unsere Deutsche überhaupt ein Mensch ist?“
Ich fühle mich ein wenig provoziert. Niemand wird gerne mit dem Gedanken konfrontiert, gerade mit einem Roboter – oder was auch immer – geschlafen zu haben.
„Schön und gut, aber was soll die ganze Reise zu diesen beiden Sternen und die Messerei?“
Svende verdreht die Augen:
„Ganz einfach! Sollten sich die beiden Sterne anders verhalten, als die bisherige Physik voraussagt, dann ist hier vielleicht ein Schlüssel oder ein Teil des Schlüssels zum Verständnis unserer Welt. So zumindest die konservative Einschätzung vieler Wissenschaftler. Ich persönlich gehe da ein bisschen weiter. Und ich bin mir sicher, unsere blondes Genie ebenfalls.“
„Ja und?“
„Ganz einfach. Jedes mal, wenn wir die Welt nicht mit den alten Formeln beschreiben können, müssen wir uns was Neues einfallen lassen, um das Phänomen zu beschreiben. Eine neue Formel sozusagen, die ein neu entdecktes Naturgesetz beschreibt. Nun hier ist das Phänomen, das wir erwarten, so umfassend, dass sich zusammen mit einer Reihe anderer Betrachtungen eine Formel für das Holografische Universum entwickeln lassen könnte. Also eine Art Weltformel, die alles beschreibt, was war, ist und sein wird!“
Hergesons läuft bei so viel Formelmacht in spe anscheinend das Wasser im Mund zusammen, denn ihm läuft der Sabber aus dem Mund. Ich greife Flachmann, mit dem er die ganze Zeit rum wedelt und rette ihn so davor eingenässt zu werden. Zur Sicherheit wische ich den Flaschenrand mit dem Ärmel ab und nehme einen kurzen Schluck.
„ Ich versteh zwar nix von dem ganzen Zeug, dass ihr da schwätzt, aber eins steht fest, ihr habt einen fetten Schaden. Selbst wenn alles stimmt, wer will denn was mit einer Weltformel anfangen? Die Weltherrschaft an sich reißen? Die Lottozahlen voraus sagen? Oder einfach Brötchen damit kaufen?“
Ich drücke ihm den Flachmann wieder in die Arme. Das Ganze nimmt mich mehr mit, als ich vor dem Schweden zugeben möchte. Aber seinen amüsierten Augen kann ich entnehmen, dass mir das nicht gelingt. Wie auch? Immerhin hab ich vor einigen Jahren eine Geschichte zusammen fantasiert, die zu gut hierzu passt. Würde nur zu gerne Smergs Meinung hören. Oder Sylvias. Doch ich habe erst mal anderes zu tun.
44.
„Na, gut geschlafen?“
Ich stehe vor Ben. Er blinzelt mich schief an, hält mir seine verbliebene Hand hin. Erst jetzt merke ich, dass es die Rechte ist. Ich gebe ihm meine. Sein Handgriff ist weich.
„Du kannst Fragen stellen Doc. Sollte ich mir vielleicht Falten in die Wangen liegen? Nee, hab kein Auge zugetan. Sind wohl die Hormone oder deine Medizin. Hab mir mal so meine Gedanken gemacht – und dann noch was. Irgendwer ist hier rum geschlichen. Zumindest glaub ich das. Weis nicht wer es war. Aber gut, ist ja ein freies Schiff.“
Ich unterbreche ihn: „Hab mir die Packungsbeilage nicht genau durchgelesen. Kann aber auch sein, dass Halluzinationen zu den Nebenwirkungen gehören. Denke mal, dass das nicht mehr allzu lang anhalten wird und dann wirst du erst mal pennen wie ein Baby. Aber zuvor möchte ich mit dir mal so absprechen, was aus dir werden soll.“
„Ich dachte das steht fest: Ich werd ein schicker Cyborg mit Laser und Monsterkraft.“ Er lacht heiser. „Also Doc, was geht?“
Ich greife hinter mich. In der Bibliothek habe ich mir mehrere Titelblätter der Marvelcomics ausgedruckt. Ich halte sie ihm vor die Nase.
„Soweit ich weiß, ist ne Menge möglich. Ich möchte bloß wissen, wie weit du gehen möchtest. Ob ich das dann hin krieg, ist ne andere Sache.“
„Bekomm ich dann auch so ein schickes Kostüm?“
„Frag Sylvia, vielleicht näht sie dir was.“
Ich klinge ungewollt sauer. Ben merkt das.
„Mann, ich weiß nicht was du hast. Du hüpfst mit der Deutschen in die Kiste und wirst eifersüchtig wie ein Sizilianer, wenn Sylvia sich mit mir unterhält.“
„Ich weiß es auch nicht. Vergiss es. Also irgendwelche Wünsche?“
„Kannste mich nicht einfach wieder so machen wie vor dem Unfall? – Ich meine, ich war ganz zufrieden mit mir.“
Damit habe ich gerechnet. Kann ich verstehen. Mir wäre es allerdings lieb gewesen, wenn ich mich nicht mit seinem Körper beschäftigen müsste. Ich bin zwar Mediziner und es gehörte einst zu meinem Job, selbst gut Freunde zu sezieren, wenn sie sich mit ihrem Motorrad vertan haben, aber das hier ist was anderes. Ben lebt noch und ich habe keine Lust mir die 3D-Scans seines Körpers anzuschauen. Am liebsten würde ich ihn anlügen und irgendwas von geht nicht schwafeln, aber das bring ich dann doch nicht fertig.
„Hab mir schon deine Daten besorgt. Muss allerdings noch ein bisschen Zeit investieren, damit ich keinen Schrott baue.“
„Wir haben da noch nicht so genau drüber gesprochen. Willst du mich mal einweihen, was du tun möchtest?“
„Eigentlich nicht, denn ich weiß es nicht. Ich hab nur so eine grobe Vorstellung, da sind noch eine Menge Lücken.“
„Doc, sag einfach, was du vorhast.“
Ben hat recht. Irgendeinen diffusen Plan habe ich.
„Ok! Ich hab dir ja von der 3D-Fräse erzählt. Das ist das Werkzeug, mit dem ich jedes Nichtorganische Bauteil deines neuen Körpers bauen will. Dann gibt es aber noch andere Möglichkeiten. Aus deinen Stammzellen kann ich vielleicht ganze Körperteile oder Organe neu wachsen lassen. Ich hab da keine Ahnung von, aber ich werde sie bekommen und ich werde diese Möglichkeit einsetzen. Das dritte sind selbst organisierende Moleküle. Auch hier weiß ich nur, dass wir über die nötige Technik verfügen. Ich muss also aus diesen drei Möglichkeiten das auswählen, was jeweils am besten funktioniert.“
„Klingt durchdacht!“
Die Ironie ist nicht zu überhören. Wir schauen uns an. In Ben arbeitet es.
„Hab ich eine andere Möglichkeit?“
„Ja du könntest weiter als einarmige Schublade leben. Und: Du kannst warten, bis wir wieder auf der Erde sind. Ist aber keine gute Idee. Je länger du wartest, umso schwieriger wird es werden, dich wieder in Gang zu kriegen. Deine Wunden vernarben. Ist das zu weit voran geschritten, geht wahrscheinlich gar nichts mehr. Dazu kommt, dass wir hier wahrscheinlich besser ausgestattet sind als auf der Erde und dazu keine Probleme mit irgendeiner Ethikkommission bekommen. Glaub mir, ich würde dir diese Bastelstunde nicht vorschlagen, wenn ich der Meinung wäre, etwas anderes wäre besser. Aber am Besten ist vielleicht, du bittest Maria oder Sylvia, das noch mal zu recherchieren. Sie sollten schnell zu einem Ergebnis kommen. Soviel Zeit ist noch. Schließlich bist du immer noch nicht stabil genug für die nötigen Operationen.“
„Hol mir die beiden!“
Ich lasse sie allein. Denn ich weiß es gibt keine Alternative. Ziehe mich in mein Zimmer zurück. Lade mir alles was ich für den Eingriff Wissen muss ins Hirn. Ein paar von den Super-Pillen, zwei, drei Elektroden angelegt und ab geht die Post. Das Wissen fließt in mich rein, während ich mir eine alte Yes-Scheibe anhöre. Es ist eine Live Aufnahme. Dauert gut zwei Stunden. Lang genug, um die Grundlagen in den Kopf zu kriegen, jedoch nicht lang genug für alles. Hoffentlich reicht die Zeit. Meine Laune ist nicht grade gut. Mich wurmt, dass Ben mir nicht blind vertraut. Um vor mir selbst nicht allzu blöd dazustehen, denk ich mir dass ich froh sein muss. Vielleicht habe ich etwas übersehen oder bin doch vom Ehrgeiz getrieben. Wenn ich in mich horche, merke ich, dass ich die Deutsche gerne beeindrucken möchte und Bens Unfall könnte mir die Gelegenheit dazu geben. Immerhin war ich mal ein richtig guter Chirurg. Vielleicht sogar der Beste. Mir fällt jedenfalls kein besserer ein. Sylvia stört meinen Tagtraum:
„Was du vorhast ist zwar absolutes Neuland, aber es gibt tatsächlich keine andere Möglichkeit, wenn Ben .wieder einen Körper haben will. Maria und ich haben mindestens ein Dutzend Spezialisten, Koryphäen und Quacksalber gesprochen. Smerg hat auch noch recherchiert. Keine Chance.“
„Weiß Ben Bescheid?“
„Ja!“
Ich brauche sowieso eine Pause.
45.
Ben blättert in den Marvel-Comics, die ich ihm dagelassen hab.
„Hmm, groß ist der Unterschied nicht! Oder?“
Er spannt die Muskeln seines verbliebenen Arms an und hält eines der Comics dahinter.
„Bist ein Held!“
Sylvia nimmt ihm das Heft aus der Hand.
„Soweit ich weiß, haben wir nicht viel Zeit.“
Sie schaut mich an. Habe nicht gemerkt, dass da auch ein Fragezeichen war. Aber ihr Blick spricht Bände, also lege ich los:
„Wir können morgen anfangen. Bis dahin werde ich genug wissen. Wir müssen Ben allerdings vorbereiten. Wir, das heißt im Wesentlichen ihr. Ich werde euch sagen, was zu tun ist.“
Was Ben bei seinen Recherchen über unsere Mission und über die Deutsche herausbekommen hat, bleibt für mich weiterhin im Dunkeln. Ich denke zwar ab und an mal da dran, ihn zu fragen, aber ich finde keine Gelegenheit, in der ich Lust habe ihn zu fragen. Sicher ein Fehler, aber damit muss ich leben.
46.
Sicher wäre es jetzt für die Leserin interessant, zu erfahren, was wir genau anstellen in den nächsten Stunden und Tagen. Doch ich möchte nur das gröbste davon niederschreiben. Zum einen weil es mich maßlos langweilen würde, Details zu erzählen, zum anderen, weil ich das meiste vergessen habe. So ist das. Die ganze Operation verläuft im Rausch. Wir alle sind unter dem Einfluss der Droge. Alles andere würde keinen Sinn ergeben. Jeder hat die Nacht vor der Operation sein eigenes Lernprogramm bekommen. Ich habe es zusammengestellt, während wir Ben vorbereiten. Nur zwei Tage später hat er einen funktionierenden Kreislauf. Nichts Dolles, aber so, dass alles weitere unter weniger Zeitdruck geschieht. Ich habe Ben in ein künstliches Koma versetzt. Bens neuer Körper wächst langsam. Es wird dauern. Sein Kopf, Schulter und Arm ragen aus dem Tank, in dem die Stammzellen ihr Medium haben werden. Mit der 3D-Fräse forme ich die Gerüste für die Knochen. Das macht Spaß, denn es erinnert mich an meine Kindheit, in der ich kleine Modellflugzeuge gebastelt habe. Captain Miller und die Russin gehen uns aus dem Weg. Kein Wunder wir bewegen uns sicher wie die Zombies. Die Deutsche lässt sich ab und an blicken, schleicht kurz rein, schaut hierhin, schaut dahin und verschwindet dann wieder. Mich beachtet sie nicht, oder zumindest merke ich es nicht. Wir machen gute Fortschritte.
47.
Viladings Tod spielt seit Bens Unfall keine Rolle mehr. Irgendjemand hat ihn in die Kühlkammer gelegt. Wir haben ihn anscheinend vergessen. Das ändert sich gut eine Woche nach Operationsbeginn. Ohne besonderen Anlass, entscheide ich, den Garten des Inders aufzusuchen. Ich streife durch sein kleines Arrangement. Wie sah noch die verdammte Pflanze aus? Irgendwie Teeartig. Doch wie sieht Tee aus? Ich gehe in mein Zimmer und suche die Ausdrucke. Kann mich nicht mehr erinnern, wohin ich sie gelegt hab, als mich die Italienerin aus dem Garten holte. Hab ich sie mit in den Maschinenraum genommen? Im Garten liegen gelassen? Statt weiter darüber nachzudenken schalte ich den Computer an und mache mich auf die Suche nach den Dateien. Doch ich kann nichts finden. Kann mich nicht erinnern, sie gelöscht zu haben. Ich halte mich damit nicht auf, sondern gehe in die Originalrecherche. Fünf Minuten später laufe ich wieder mit den Abbildungen durch den Garten. Diesmal werde ich fündig. Der Inder hat tatsächlich das seltsame Kraut angebaut. Ich hocke davor und starre die Pflanze an. Kann es sein, dass der Inder sich selbst vergiftet hat? Doch wie? War es ein Versehen? Absicht? Warum sollte er das Zeug schlucken? Wir haben tonnenweise Drogen an Bord, deren Wirkung wir gut kontrollieren können. Jeder hat im Prinzip Zugang dazu. Ich merke wie ich müde werde und richte mich wieder auf. Mir ist etwas schummrig. Ich lehne mich an den Kirschbaum und schließe kurz die Augen. Dann reiße ich sie schnell wieder auf. Richtig helfen tut das nicht. Kurz darauf sitze ich in meinem Zimmer und entkrone ein Bier. Mir ist wieder besser und ich entscheide, dass das nicht das letzte sein wird. Bens Operation läuft gut. Sein Zustand ist stabil und ich kann zurzeit eh nichts machen. Außerdem ist die Italienerin bei ihm. Wir haben seit ihrem Eiergriff kein persönliches Wort gewechselt. Wie auch? Es gab keine Gelegenheit. Dazu kommt, dass mir nichts einfallen würde. Smerg würde ich gerne sprechen. Aber nicht jetzt.
48.
„Hei, komm rein!“
der Däne scheint auf mich gewartet zu haben. Ohne umschweife stehen zwei Budweiser auf dem Tisch und er schaut mich neugierig an. Ich verliere keine Zeit, nehme einen Schluck aus der Flasche und schieße los:
„Meinst du, dass hier alles mit rechten Dingen zugeht?“
Statt zu antworten fängt Smerg an, den Tisch mit Essbarem zu decken. Ich weiß mittlerweile, das Essen für ihn nur wenig mit Nahrungsaufnahme zu tun hat. Für mich schon. Ich spüre meinen Hunger.
„Greif ruhig schon zu! Das ist kein Staatsbankett.“
Die Antwort auf meine Frage bekomm ich nach fünf Schinkenwürfeln, drei Kaminwurzen und einem Stück Bergkäse; Smerg hat heut wohl österreichische Woche.
„Mal abgesehen davon, dass es eher verwunderlich wäre, wenn auf einer Mission ans andere Ende des Universums alles normal laufen würde, finde ich, dass hier gar nichts mit rechten Dingen zugeht. Erst Viladkas Tod, dann die Geschichte mit Ben. Beides Mal ist noch lange nicht klar, ob es Unfälle waren.“
„Genau, deswegen bin ich hier. Was passiert hier?“
Smerg öffnet noch zwei Budweiser. Während er mir das eine reicht, greift seine Pranke in die Silberzwiebeln.
„Naja bisher schaut es so aus, als ob die Deutsche immer mehr Fäden in die Hand bekommt. Sie hat jetzt das Kommando über das Schiff. Warum auch immer. Sie weiß so gut wie keiner von uns Wissenschaftlern, was diese Spiegeleier da draußen bedeuten können. Svende hat vielleicht noch einen Schimmer. Nichts Neues also. Ich hab auch versucht mir mal Gedanken über den Laserablationsoperatror zu machen. Eigentlich ein Heimspiel. Ich hab ja selbst an den Grundlagen dafür geforscht. Witzigerweise taucht unser Supertalent auch in der Primärliteratur darüber auf. Svende übrigens auch. Beide haben sogar an der technischen Umsetzung mitgearbeitet.“
Smerg wischt den Silberzwiebelsabber an seiner Hose ab, greift nach seinem Bildschirm und legt ihn mir hin. Ich merke, dass meine Finger auch voll Fett sind; entscheide mich aber fürs Händewaschen. Dann lese ich die Liste der Fachartikel durch, an denen die Tausendschönchen oder Smerg mitgewirkt haben. Nie tauchen beide zusammen auf. Außerdem gibt es noch einige unveröffentlichte Berichte und einen ausgiebigen Schriftverkehr, der wohl den sicheren Betrieb des Antriebs und des Laserablationsoperators beinhaltet. Soweit ich das aus den Überschriften und den Kurzfassungen lesen kann, war man sich nicht einig darüber, wie wichtig Sicherheits- und Reparaturprogramme sind. Sowohl der Schwede als auch die Deutsche scheinen für eine schnelle Umsetzung des Antriebs gewesen zu sein. Aus ihrer Sicht vielleicht sogar verständlich. Der letzte Artikel stammt von Smerg. Darin warnt er vor dem Aufbau des Antriebs.
„Versteh ich das richtig? Dass Ben im Operator gefangen wurde, ist auch unseren beiden Superschlauen zu verdanken.“
„Sicher wird es schwer sein, einen von beiden wegen Fahrlässigkeit zu verknacken, aber im Grunde hast du Recht “
Smerg nimmt einen Schluck und grinst mich säuerlich an.
„Das blöde ist halt, dass ich nicht ausreichend dagegen gearbeitet hab. Als dann die Mission losging und ich die Chance bekam mit zu fahren, waren mir meine Zweifel dann auch egal.“
Langsam wird mir klar, warum der Däne so schweigsam war. Als die Reise erfolgreich zu werden schien platzte sein Forscherherz vor Freude und er wurde redselig. Oder so.
„Bleibt die Frage: War es ein Unfall? Ich meine, Ben ist doch kein Idiot. Er hat doch gewusst, was der Haken an der Kiste sind.“
„Und er hat sich eine Chance ausgemalt, trotzdem wieder heil raus zu kommen.“
„Wer hat eigentlich den Befehl für diese Kammikaze-Nummer gegeben?“
Eine überflüssige Frage, ich weiß.
„Naja, die Deutsche hat das Kommando. Aber es blieb ihr auch nichts anderes übrig. Schließlich musste das Programm gestartet werden“
„Doch! Jemand anderes hätte gehen können!“
„Du meinst Maria oder Ludmilla?“
Mir ist auch dabei nicht wohl.
„Und was hat das alles mit der Weltformel zu tun?“
Ich hoffe ihn damit zu überraschen, doch Smerg überrascht mich:
„Ja, das ist spannend. Ich meine wir alle haben irgendwie so was im Kopf, Endlich eine Formel, die alles beschreibt und so. Das meiste hat dir ja Svende erzählt. Was dabei tatsächlich rauskommt ist noch die Frage, Allerdings, wenn nur ein bisschen von dem stimmt, was ich weiß, dann kann das Wissen dieser Formel tatsächlich Begehrlichkeiten wecken.“
Ich reiche Smerg die leere Bierflasche. Mir reicht´s für heut. Wir sind nicht wirklich weit gekommen und das Bier wirkt langsam wieder einschläfernd. Smerg hat das gemerkt. Er stellt zwei Eis gekühlte Gläser auf den Tisch und kippt sie mit Aquavit voll.
„Du siehst müde aus.“ Er schaut mich an: „Skol!“
49.
Am nächsten Morgen treffe ich Sylvia im Schwimmbad. Sie ist immer vor mir da. Wir ziehen unsere Runden. Ich nutze die Zeit im Wasser, um meine Gedanken schweifen zu lassen. Wie so oft kreisen sie nicht, sondern taumeln um einen Punkt. Genauer gesagt um eine Person. Sylvia. Was verbindet sie mit Ben? Warum ist sie dabei? Was weiß sie, was ich nicht weiß? Als ich sehe, dass sie mit ihrem Programm fertig ist, schwimme ich in ihre Bahn. Wir begrüßen uns kurz. Ich vermeide, sie allzu ausgiebig zu mustern.
„Ben geht’s gut! Ich war kurz schauen,“
Ihre Augen schauen mich finster an:
„Gut?! So ein Schwachsinn! Er lebt. Das ist alles.“
Gott verdammt. Kann die nicht normal mit mir reden? Muss ich mit jedem Satz präsentiert bekommen, dass ich ein Trottel bin? Statt sie darum zu bitten, übergehe ich die Attacke:
„Was ich dich fragen wollte, hast du noch mal mit Ben über die Mission gesprochen? Ich meine er hatte doch so ein Gefühlt, dass da was faul ist.“
„Was meinst du?“
Sylvia ist noch nicht versöhnt.
„Ganz einfach. Wir wissen nicht, ob Viladings Tod Zufall war oder nicht. Und wenn es Absicht war, wessen? Dann die Geschichte mit Ben. Alle schienen gewusst zu haben, dass es Selbstmord ist, da rein zugehen. Trotzdem wird er rein geschickt.“
Und der Trottel geht auch noch rein. Den Schluss verkneif ich mir. Streit kann ich keinen gebrauchen. Außerdem war´s nach Lage der Dinge ja eher eine Heldentat und Helden haben eine recht ausgedehnte Schonzeit.
„Keine Ahnung, was du da zusammen fantasierst. Wir haben vor allem über Dinge gesprochen, die dich nichts angehen.“
Diesmal ist sie es, die untertaucht. Doch statt mich zu zoppen schwimmt sie quer durchs Becken, reißt sich aus dem Wasser und watschelt zu den Duschen. Sie hat wirklich einen knackigen Arsch und ich weiß nicht, ob sie mir nicht sogar besser gefällt als das Toppmodell mit dem Hirnfehler. Meins funktioniert anscheinend hervorragend. Verschont es mich doch einige Sekunden vor der bitteren Erkenntnis, dass ich Sylias Vertrauen verloren habe. Ich lasse mich nach hinten ins Wasser gleiten und male mir aus, wie ich wohl vor ihr dastehe. Ein notgeiler Idiot, der sich mir nichts dir nichts ins Bett zerren lässt. Nur weil es seinem Ego schmeichelt. Oder aus Eifersucht? Im Grunde war es ja Sylvias Getechtel mit Ben, das mich Tausendschönchen in die Arme trieb. Außerdem war ich schon ganz schön angeschlagen. Das erste Mal ja, doch dann. Dann hab ich das Ganze immerhin nicht forciert. Zum Schießen! Nicht forciert! Das Hirnluder braucht doch nur in meiner Nähe zu sein, um meinen Verstand auszuschalten. Na, wenn das keine mildernden Umstände gibt. Womöglich gar Freispruch wegen Unzurechnungsfähigkeit. Ich bin doch hier nicht auf einer Karnevalsvögeltour. Das ist die wichtigste Weltraummission, die es je gab und ich führ mich auf wie ein Völkerkundestudent im ersten Semester. Zum Glück stoße ich mit meinem Kopf an den Beckenrand. Damit ist die Verhandlung geschlossen. Ich bin schlau genug das Verfahren erst mal auf unbestimmt zu vertagen. Zwecks Beweisaufnahme zum Beispiel. Unter der Dusche steht die Deutsche. Voll eingeseift von oben bis unten. Bitte schön wertes Gericht. Beweisstück Nummer Eins.
50.
Tausendschönchen kommt langsam auf mich zu. Gleichzeitig streicht sie den Schaum auf ihrem Körper so geschickt hin und her, dass ich nicht genau erkennen kann, ob sie nackt ist. Wo hat die so was gelernt? Ich reibe mir den Hinterkopf. Weil es da weh tut, Weil ich nicht weiß wohin mit meinen Händen.
„Komm schon. Jeder hier weiß, dass du auf sie scharf bist. Dumm sich gleichzeitig mit einer Anderen einzulassen.“
Sie lacht mich an. Ganz die Frau, die alles unter Kontrolle hat. Auch mich. Mir ist das egal. Ich will nur den Schaum von ihrem Körper reiben. Sie an mich spüren. Trotzdem bewege ich mich langsam zurück. Nicht schnell genug um den Abstand zu vergrößern, aber schnell genug, damit es nicht zu eng wird. Seht ihr Hohes Gericht, so standhaft bin ich.
„Das übliche. Guten Morgen und so…“
„Sah es nicht nach aus. Aber gut! Ich wollte sowieso alleine duschen“ sprichts und ist eine Sekunde später aus dem Duschraum.
Was war das jetzt wieder? Ich dreh die Dusche an, schließe die Augen und lasse mir vom Wasser den Kopf massieren. Ich merke nicht, dass die Tür geöffnet wird. Ich merke nicht, dass da noch jemand im Raum ist. Ich merke noch nicht mal, dass mir die Lichter ausgeschaltet werden.
51.
Die Dusche läuft immer noch, als ich meine Augen wieder öffne. Ich liege auf dem Boden. Es ist kalt. Mir ist kalt. Das Wasser ist kalt. Ich versuche mich zu bewegen. Geht nicht. Was ist da los? Ich teste meine Füße, Beine, Arme, Hände, strenge mich an, doch nichts geht. Dann fällt mir ein, dass ich einen Mund habe. Ich versuche zu rufen. Nichts. Dann eben einfacher: Nur die Kiefer bewegen. Auf und Ab lautet jetzt der Befehl. Nix. Gut wenigstens die Augenlider gehorchen. Oder? Ja. Ich schließe die Augen und öffne sie sofort wieder. Man weiß ja nie. Mir ist immer noch kalt. Außerdem stelle ich fest, dass mein Schädel brummt. Nicht wirklich schlimm. Aber so wie bei einem leidlichen Kater oder bei einem Schnupfen. Mein Blick geht dummerweise Richtung Kachelwand, was zur Folge hat, dass, mein Blickfeld kaum größer als eine Schallplatte ist. Ich höre das Rauschen der Dusche. Sonst nichts. Versuche die Zeit abzuschätzen. Doch womit. Ich kann zählen: 21, 22, 23… usw. eine zweistellige Zahl soll ja ungefähr eine Sekunde dauern. Schon nach ein paar Minuten komm ich durcheinander und gebe auf. Die Zeit werde ich nicht in den Griff bekommen. Das steht fest. Ich überlege, wie lange ich so wohl durchhalten werde. Sorgen mache ich mir keine. Schließlich werden die anderen mich irgendwann vermissen und schauen, wo ich bin. Ob sie allerdings auf die Idee kommen sofort in der Dusche zu suchen ist fraglich. Unser Raumschiff ist fast so groß wie ein Kreuzschiff und wenn es nach den Wünschen der Ingenieure gegangen wäre, hätte es die Ausmaße eines Flugzeugträgers. Es gibt also eine Menge Orte, wo ich sein könnte und die Dusche des Schwimmbades ist nicht der allerwahrscheinlichste. Vielleicht sollte ich mir doch Sorgen machen. Um mich von allzu trüben Gedanken abzulenken , denke ich darüber nach, was eigentlich passiert ist. Wieso liege ich hier? Warum ist das Wasser kalt? Es war warm, sogar eher heiß, als ich duschte. Jetzt ist es kalt. Habe ich den Temperaturregler berührt, als ich gestürzt bin? Keine Ahnung. Was wenn nicht? Auch dazu fällt mir nichts ein. Oder doch: Dann müsste jemand in der Dusche gewesen sein und das Wasser auf kalt gestellt haben. Oder gar während ich duschte. Die Deutsche? Syliva? Zumindest waren beide zuletzt in meiner Nähe. Aber wo ist das Motiv? Im Prinzip kommt jeder in Frage. Gut Smerg klammer ich aus. Mein riesiger Freund ist auf meiner Seite. Oder? Was denkt er eigentlich von meinem Techtelmechtel mit der Deutschen? Sylvia hat mir ihretwegen das Vertrauen aufgekündigt. Aber wäre einer von beiden fähig mich in diese vielleicht lebensgefährliche Situation zu bringen. Ich kann es mir nicht vorstellen. Dann schon eher Svende oder Tausendschönchen. Beide kennen sicher keine Skrupel, wenn es um die Verwirklichung ihrer Ziele geht. Doch warum sollten die mich beseitigen? Wissen die was von meinen Konspirativen Sitzungen mit Smerg? Keine Ahnung. Aber immerhin, bin ich der einzige, der nicht aktiv in das Projekt eingebunden ist. Tausendschönchen wollte mich extra dabei haben. Beim Rest an Bord bin ich mir nicht so sicher. Miller und Ben sind Militärs. Denen bin ich sicher grundsätzlich suspekt. Andererseits habe ich grade in letzter Zeit das Gefühl, dass der Captain in mir einen Verbündeten sucht. Allerdings bin ich da nicht drauf eingegangen. Ben scheidet als möglicher Feind aus. Er ist zu sehr auf mich angewiesen und auch noch nicht vollständig. Was ist mit Ludmilla oder Maria? Bin mir da nicht sicher. Maria hat mir immerhin meine Weichteile unangenehm massiert und sie hält mich vielleicht sogar für einen lästigen Verehrer, aber seit Bens Unfall (Unfall?) ist unser Verhältnis auf ein vernünftiges Maß abgekühlt. Oder ist sie vielleicht in mich verknallt? Und wenn; unterkühlt man dann den Verehrten? Ludmilla? Gut, die hat sicher einen kleinen Schaden in der Rübe, aber wir haben praktisch nichts miteinander zu schaffen und Captain Millers idiotische Verschwörungstheorie wird sicher nicht zu ihr gedrungen sein. Oder doch? Der Typ ist bescheuert genug und erzählt ihr seine Verdächtigungen. Und dann? Schleicht sie durchs Schiff und massakriert die Leute? Ergibt doch auch keinen Sinn.
52.
Ein Schatten fällt auf meine Blickfeldkacheln. Anscheinend hat jemand die Dusche betreten. Puuh wurde auch Zeit. Instinktiv versuche ich den Kopf zu drehen. Klappt nicht. Der Schatten wird größer. Warum dreht der Depp nicht die Dusche aus oder wenigstens auf warm. Ich versuche eine Reflexion zu erheischen, die mir sagt, wer es ist. Doch ich kann nur den Schatten sehen. Eine Hand fühlt an meinem Puls. Endlich ist das Wasser aus. Die Person dreht meinen Kopf herum. Es ist Ludmilla. Sie hebt mich vom Boden, als sei ich ein Kleinkind. Dabei wiege ich gut 80 Kilo. Sie spricht kein Wort. Sie legt mich auf die Holzbank im Umkleidebereich und wickelt ein dickes Badetuch um meinen Körper. Soweit ich das beurteilen kann, bin ich vollkommen schlapp. Ohne Spannung. Sie nimmt mich wieder auf. Kurz darauf bin ich in der Krankenstation. Maria und Smerg schauen auf mich herab. Ich höre, wie sie meinen Zustand diskutieren. Wenigstens haben sie erkannt, dass mir kalt ist. Mein Bett ist beheizt und ich spüre, wie mir langsam wärmer wird. Eine Infusion stabilisiert meinen Kreislauf. Am Geräusch der Technik an die ich angeschlossen bin erkenne ich, dass es nicht allzu schlimm um mich steht. Warum ich allerdings gelähmt bin bleibt erst mal ein Rätsel. Maria macht sich anscheinend gerade schlau. Smerg redet auf mich ein. Ich versuche ihm mit meinen Augen zu signalisieren, dass ich ihn verstehe. Von nebenan höre ich Ben:
„Sacht mal, was ist denn mit Doc los? Der sollte jetzt nicht auch noch ausfallen!“
Warum der wach ist, ist mir ein Rätsel. Hoffe da ist alles gut. Maria sollte eigentlich dafür sorgen. Aber jetzt ist sie mit mir beschäftigt.
„Tja im Moment wissen wir nur, dass der einzige echte Mediziner an Bord unterkühlt ist und vollkommen gelähmt. Die Augen blicken starr, scheinen aber zu funktionieren. Zumindest sieht es ein bisschen so aus.“
53.
Captain Millers Stimme schneidet sich ihren Weg durch das Gequatsche:
„Gibt es irgendeinen Grund, weswegen hier alle blöd rum stehen? Ich will mich ja nicht in die medizinischen Notwendigkeiten einmischen, aber das hier ist kein Lazarettschiff, sondern eine Raumfahrtmission. Ich bitte deshalb alle, die hier nicht benötigt werden, die Station zu verlassen und sich auf die Posten zu begeben.“
Was meint der Trottel mit Posten?
„Wir müssen uns darauf vorbereiten, dass der Antrieb die nächsten paar Minuten wieder einsetzt. Auch wenn wir anscheinend eine Menge Antriebsspezialisten an Bord haben, wissen wir nicht, wie das Schiff reagiert. Johanson! Vor allem Sie brauche ich im Maschinenraum und Sie Ludmilla begleiten mich bitte auf die Brücke. Ich geh mal davon aus, das Hergensen und unsere neue Kommandantin alleine mit der wissenschaftlichen Apparatur fertig werden.“
Maria, Ben und ich sind kurze Zeit später allein.
54.
„Ich kann nicht beurteilen, ob du was verstehst, aber trotzdem ist es vielleicht besser, wenn ich dir mal deinen Zustand schildere.“ Marias Stimme lässt mich nicht grade Gutes hoffen. „Ludmilla hat dich in der Dusche gefunden. Du hast da irgendwas zwischen drei und fünf Stunden gelegen. Das heißt: Mindestens drei Stunden kalte Dauerdusche. Eigentlich ein Wunder, dass du noch lebst. Anscheinend bist du in eine Art Apnoe gefallen. Dein Kreislauf war auf jeden Fall total unten. Jetzt ist es besser. Was uns Sorge bereitet, ist, dass du praktisch nicht auf äußere Reize reagierst. Anscheinend bist du vollkommen gelähmt und ich kann noch nicht beurteilen, ob die Ursache eine Blockade in deinem Gehirn ist oder ob du ernsthaft verletzt bist. Denn sicher ist auch, dass du gestürzt bist. Warum? Weiß ich nicht. Aber das werde ich rauskriegen. Muss halt ein bisschen lernen. Denke mal, dass wir in vier Stunden schlauer sind. Bis dahin kann ich nicht viel machen, außer dich stabil zu halten und hoffen, dass sich alles von selbst auflöst.“
Na das hat mich jetzt weiter gebracht. Immerhin ist klar, dass ich fast fünf Stünden in dem kalten Wasser gelegen hab. Hoffe, dass mir das nicht aufs Hirn geschlagen hat. Maria wird das prüfen. Ebenso meinen Nervenverbindungen im Rückgrad. Unwillkürlich versuche ich meine Zehen zu bewegen. Tut sich nichts. Ich kann zumindest nichts spüren. Versuche die Hand. Fehlanzeige. Jetzt die Augen. Auch hier Fehlanzeige. Ich blicke starr an die Decke.
„Hei Maria, wenn du lernst, kannst du dir auch alles über mich rein pfeifen?“ Ben! „Finde Doc zwar ganz nett; hat mir immerhin den Arsch…“ hier stockt er kurz, „also Kopf und Arm gerettet. Aber ich fände es schon anregender, wenn mein neuer Körper von deinen Händen geformt wird. Nichts für Ungut Doc, aber das verstehst du doch! Maria, meinst du er kann mich hören?“
„Hast du nicht zugehört. Ich weiß es nicht. Du stehst auch auf dem Programm. Nur kann ich dir eines versprechen: Besser als er wird ich’s nicht machen können. Im Gegenteil. Ich kann mir zwar das nötige Wissen aneignen. Mir fehlt aber sein Geschick als Chirurg und die ganze Erfahrung.“
„Welche Scheiß Erfahrung? Doc hat die meiste Zeit an Leichen rumgeschnippelt. Aber gut, bin natürlich auch dafür, dass er wieder heil wird. Ist ja ganz in Ordnung der Typ.“
Hätte den Vollidioten doch als Schubkarre weiterleben lassen sollen. Was bildet der sich ein, dass er meint, seine Haltung zu meinem Weiterleben würde irgendjemand interessieren. Obwohl mir Ben gerade gehörig auf meine gelähmten Eier geht, kann ich nicht anders, als über seinen Zustand nachzudenken. Wenn meine Berechnungen stimmen und er die Endphase der Operation oder sollte ich Neugestaltung sagen? heil übersteht, dann haben wir einen echten Killer Cyborg an Bord. Ich konnte nämlich nicht widerstehen und habe hier und da ein paar Verbesserungen eingebaut. Die anderen haben es nicht so richtig gemerkt und ich kann ein recht gedankenloser Mensch sein. Hoffe das war kein Fehler. Auf jeden Fall wird Ben über Wahnsinnskräfte verfügen und nur schwer oder zumindest kaum verwundbar sein. Immerhin war ich klug oder auch zynisch oder arrogant genug, an eine Achillesferse zu denken. Logisch, dass nur ich die kenne. Wenn Maria jetzt an ihm rumpfuscht, dann könnte all das für die Katz gewesen sein. Oder zumindest wird es eine Menge peinlicher Fragen geben. Klar, die würden später auch kommen. Aber solange Ben noch im Tank ist, wird sicher mehr darüber diskutiert werden und da habe ich keine Lust drauf. Wenn er fertig ist und heil bleibt, kann ich mich auf meinen operativen Erfolg berufen. So waren ungefähr meine Gedanken, als ich die Operation leitete. Jetzt, wo ich nicht mehr unter Drogen stehe, fällt es mir schwer meine Überlegungen nachzuvollziehen oder sie gar gut zu heißen. Um ehrlich zu sein, würde ich mich am liebsten verkriechen. Insofern kommt mir mein Wachkoma ganz recht. Soll doch Maria Ben fertig basteln und ich muss mich nicht verantworten. Ein Gedanke, der mir so gut gefällt, dass ich einschlafe.
55.
Jede Faser meines Körpers platzt. Ich werde mit einem Inferno aus Lichtblitzen, Tritten und Schlägen konfrontiert, dem ich nicht gewachsen bin. Alles was ich wahrnehme ist Schmerz. Omnipotenter, allumfassender Schmerz. Ich habe nur einen Wunsch. Mein Ende. Ich bin bereit, mir den Kopf vom Leib zu reißen, um Ruhe zu finden. Doch ich bin machtlos. Kein Befehlt erreicht meine Glieder. Arme und Hände bleiben stumm. Gedanken sind unformulierbar. Dann ist es vorbei.
„Noch einmal die gleiche Dosis und er ist weg.“
„Puls?“
„Nix!“
„Atem?“
„Nix!“
„Hirn?
„Nix!“
„Dann ist es auch egal.“
56.
Ich explodiere. Es riecht wie bei einem Grillabend. Dann schwebe ich. Alles ist weich. Kein Schmerz. Nur Schwerelosigkeit. Nach den Schmerzen ist das mehr als nur eine Erlösung. Ich bin versöhnt. So kann es ewig weitergehen. Tut es natürlich nicht. Ich krache mit voller Wucht auf die Krankenliege. Während ich falle öffne ich die Augen und erkenne Smerg, Maria und Sylvia, die bewundernd meine Flugbahn beobachten. Sie scheinen recht neugierig zu sein, was das Ergebnis meiner Landung sein wird. Fast bin ich versucht ihnen zu winken. Vielleicht mach ich das sogar. Wer weiß. Kurz nach meiner Landung wird es ein bisschen ekelig. Mein Oberkörper bäumt sich auf und ich spei meinen Mageninhalt an die gegenüber liegende Wand. Die Farbe gefällt mir nur mäßig. Immerhin ist das Erbrochene nicht nur rot. Ich falle zurück, drehe mich auf die Seite und versuche am Laken meinen besabberten Mund abzuwischen. Das gelingt nur mäßig, denn das Laken ist recht straff gezogen und ich habe anscheinend nicht genug Kraft. Eine Hand mit Einweghandtuch kommt mir zu Hilfe. Es ist Sylvia.
„Gib mir was zum Mundausspülen.“
Sylvia reicht mir kurz darauf einen Becher. Sie setzt an, was zu sagen, doch ich komm ihr dazwischen.
„Werds schon nicht runterschlucken.“
Das Wasser im Mund tut gut. Ich spucke es mit dem Schleim aus, der mich gestört hat.
„Was war los?“
„Du warst praktisch tot. Dann haben wir dich anscheinend zurückgeholt mit ein bisschen viel Elektrizität.“
„Hab ich gemerkt.“
Die Erinnerung an die Schmerzen macht mir kurz Angst. Doch das verfliegt zum Glück schnell. Ich will wissen, was los war.
„Warum war ich gelähmt? Warum war ich fast tot?“
„Gute Frage. Wir wissen es nicht. Woran kannst du dich denn erinnern?“
„Daran, dass ich bewegungslos in der Schwimmbaddusche lag, dass ich unterkühlt war und Maria mich auf die Krankenstation gebracht hat. Dann hab ich noch gehört, wie Miller euch weg gerufen hat und dann bin ich irgendwann eingenickt.“
Ich bin erstaunt, wie gut es mir geht. Könnte zwar keine Bäume ausreißen, aber immerhin war ich eben noch klinisch tot und jetzt quatsche ich hier rum.
„Das war vor gut acht Tagen Sie wussten nicht, was los ist, nur das du im Koma liegst. Vor gut einer Stunde haben die Geräte dann Alarm geschlagen. Völlig überraschend, den dein Zustand war stabil. Es gab keine Lebenszeichen und da haben wir mit der Wiederbelebung begonnen. Zum Glück war Smerg dabei. Er ist nicht so zimperlich, wenn es um Wiederbelebung geht wir ich.“
„Hab´s mir bei der Geschichte mit Ben abgeguckt,“ murmelt der Riese.
Maria erzählt weiter: „Ich hab nichts bei dir feststellen können, was als Ursache für dein Koma oder die Lähmung in Frage kommen kann. Kann aber sein, dass ich was übersehen hab. Deshalb wäre es gut, wenn wir das alles noch mal durchspielen und du mir dabei hilfst.“
Wir werden diese wunderbare Idee erst viel später aufgreifen. Zu einem Zeitpunkt, der durchaus als Zu Spät durchgeht.
57.
Acht Tage sind seit meiner kalten Dusche vergangen. Da hab ich eine Menge verpasst. Auch gut. Der Antrieb sollte in Ordnung sein. Vielleicht haben sie sogar ihre vermaledeite Weltformel gefunden und Ben ist fertig. Ben! Ich erkundige mich:
„Was ist mit Ben? Wie geht’´s ihm?“
„Ben schläft. Er ist eigentlich seit Tagen fertig und wir wollten ihn schon aus der Nährlösung entlassen. Doch dann haben wir doch Schiss bekommen. Wie gesagt, ich bin keine echte Medizinerin und da wollte ich ein bisschen Zeit schinden. Auch Ben war der Gedanke dann nicht mehr geheuer und wir haben uns für einen künstlichen Schlaf entschieden. Nach allem was ich gefunden habe, war es das Beste für ihn.“
Wenn ich nicht ein bisschen zu ehrgeizig gewesen wäre. Anscheinend haben sie von meinem kleinen Experiment nichts mitbekommen oder es nicht kapiert. Fakt ist, dass Ben auch im Schlaf weiter wachsen wird. Wenn er Pech hat, sieht er bald aus wie eine Mischung aus Conan der Barbar und dem Michelinmännchen.
„Da müssen wir uns bald drum kümmern. Sogar sehr bald. Ich hab nämlich einen Fehler bei Ben gemacht…“
und dann sprudelt es aus mir raus. Keine Ahnung, warum?. Ist vielleicht meiner plötzlichen Heilung zu verdanken. Die drei schauen mich etwas verdutzt an, doch anders als ich erwartet habe schimpfen sie nicht.
„Gut, erstmal musst du fit werden, dann kannst du dich um Ben kümmern. Seine Situation ist doch nicht lebensbedrohlich. Oder?“
„Wenn alles so läuft, wie geplant, dann sollte es keine Probleme geben.“
Jetzt wird Sylvia doch ein bisschen giftig.
„Keine Probleme geben? Du spinnst doch! Ich bin sicher, dass Ben das anders sieht.“
Sie anscheinend auch.
„Bin ich mir nicht so sicher,“ gifte ich zurück. „Auf jeden Fall werde ich mich drum kümmern.“
Sylvia blickt mir kurz in die Augen und schiebt ab. Ob sie beleidigt ist, kann ich nicht sagen. Ich schaue auf die Anzeigen. Sieht gar nicht so schlecht aus. Trotzdem muss gecheckt werden, was mit meinem Magen los ist. Ich bitte Maria darum. Schneller als ich erwartet habe gibt sie mir die kleine Sonde. Ich schlucke sie und wir schauen uns die Bilder aus meinem Magen an. Sieht nicht grade gut aus. Werde die nächsten Tage auf feste Nahrung verzichten. Immerhin finden wir nichts, dass mir Angst macht. Ich sage Maria das und wir entscheiden, dass ich mich noch ein paar Minuten ausruhen soll. Dann will ich aufzustehen.
58.
Etwa drei Stunden später besuche ich Ben, Auf dem Monitor leuchtet mich der Scan von Bens neuem Körper an. Bin doch etwas überrascht. Es fehlt nur noch die grüne Farbe und ich hätte Hulk persönlich vor mir. Verdammter Mist, warum hat das keiner gemerkt? Ich rufe Maria zu mir.
„Sag mal, ist dir nichts aufgefallen?“
„Als ich zuletzt nachgeschaut habe und das ist grade mal sechs Stunden her, war alles normal. Außerdem wird er die ganze Zeit überwacht.“
„Wenn er vor sechs Stunden normal war, dann ist das hier,“ ich zeige auf den Bildschirm, der Bens Körper darstellt„ in den letzten Stunden entstanden.“
Bei dem Gedanken, dass Ben in dem Tempo weiter wächst, wird mir ein bisschen schummrig. Keine fünf Minuten später sind wir vollgedröhnt und werkeln an Ben und der Apparatur rum. Den Wachstumsprozess zu beenden ist nicht so einfach. Wir müssen eine ganze Reihe zellulärer Wirkstoffkaskaden anstoßen und kontrollieren. Warum das Wachstum erst vor ein paar Sunden so massiv eingesetzt hat, werde ich später überprüfen müssen. Kann mir nicht vorstellen, dass ich das so geplant habe. Wenn doch, dann müsste es eine Aufzeichnung dazu geben, denn ich dokumentiere jeden meiner Handgriffe. Wenn ich nichts damit zu tun habe, dann hat irgendjemand anderes die Finger im Spiel. Nur ergibt das Sinn? Statt weiter darüber nachzudenken konzentriere ich mich wieder auf meine Arbeit. Zum Glück pennt Ben. Möchte nicht hören, was er zu seinem neuen Körper sagt.
59.
„Doc du Spast! Was hast du dir dabei gedacht?“
Es ist das erste Mal, dass ich Ben in Rage erlebe. Zum Glück ist er immer noch in seinen Tank eingesperrt. Das dämpft.
„Ben, ich hab´s dir doch erklärt und von mir aus kannst du mich vor ein Kriegsgericht schleppen oder wegen Kurpfuscherei anklagen. Aber jetzt kann ich auch nicht mehr sagen, als dass es mir Leid tut.“ tut es mir wirklich.
Ben stiert mich an.
„Kann man es wieder rückgängig machen?“
„Willst du noch mal in den Ablationszylinder? Nein! Vielleicht kannst du etwas abnehmen und auch die Muskelmasse reduzieren. Aber an dem Körperbau würde ich nicht ran. Du hast schon Glück, dass das überhaupt funktioniert hat. Morgen kannst du raus und dann schaun wir, was geht.“
„Bravo! Klasse Plan! Das erste was gehen wird, werden deine Eier sein!“
„Hei die haben damit gar nichts zu tun!“ versuche ich das Gespräch in seichteres Fahrwasser zu lenken.,
„außerdem, so schlecht stehst du gar nicht da. Immerhin bist du jetzt eine richtige Kampfmaschine. Dass es dir nicht gefällt, macht dich nur sympathischer!“
„Doc du bist ein blöder Wichser. Hör bitte auf mich zu verarschen und hol mich aus dem Scheiß Tank raus.“
Auch wenn Ben ziemlich sauer ist, wunder ich mich doch, wie gefasst er alles aufnimmt. Habe sogar das Gefühl, dass er seinen neuen Körper ganz witzig findet.
„Ben, gerne! Aber das vor morgen ist da nix drin. Ich will sicher sein, dass du stabil bist.“
Ben schaut mich mit zugekniffenen Augen an. Anscheinend verdaut er t grade die neuesten Erkenntnisse. Auf jeden Fall ist er still. Um ihn abzulenken, frage ich, was er über unsere Mission weiß.
60.
„Viel kann ich dir nicht erzählen, aber ein bisschen was geht. Du denkst doch sicher, das hier ist eine reine Forschungsreise.“
Um ehrlich zu sein, mir war das immer Scheiß egal. Trotzdem frage ich brav
„Na ja weit gehend schon oder?“:
„Nö! Das ist rein militärisch. Alles was wir hier erforschen geht zwar auch an die Regierungen, aber das Militär ist immer dazwischen geschaltet. Schließlich organisieren die ja auch dir Reise.“
Forschung hilft dem Militär. Militär hilft der Forschung. So ist das nun mal. Leonardo Da Vinci hat auch schicke Waffen konstruiert. Ben zu liebe bleibe ich neugierig:
„Ja und was bedeutet das?“
„Da kannst du dir ja mal selbst einen Reim draus machen. Eins ist klar, wenn sich unsere Generäle da nicht irgendwas erhoffen würden, dann wären wir nicht hier. Und womit können Generäle am besten umgehen?“
Dafür dass Ben selbst beim Militär ist, hat er eine recht liberale Einstellung. Grund genug, nach dem nächsten Knochen zu fragen:
„Du meinst doch nicht, dass die sich so was wie eine Superwaffe erträumen?“
„Keine Ahnung, was die sich erträumen. Auf jeden Fall gehen die davon aus, das alles was wir hier erforschen militärisch nutzbar sein kann.“
Musste Einstein auch schon erfahren. Zum Beispiel.
„Ist Captain Miller deswegen so vorsichtig, was den Umgang mit der Captain Ludmilla und Maria angeht?“
„Kann schon sein, dass die auch ihre Befehle haben. Das müsstest du die fragen; wobei ich nicht glaub, dass die was erzählen.“
Du ja auch nicht, wenn man´s recht betrachtet.
„Und die Deutsche? Sie hat doch jetzt das Kommando bekommen.“
„Keine Ahnung wie sie das geschafft hat. Vielleicht ist sie ja mit unserem Verteidigungsminister ins Bett gesprungen!“ hier grinst Ben fröhlich..
Ich grinse zurück. Leicht säuerlich. Dass Tausendschönchen alles tun würde, um an ihre Formel zu kommen ist mir schon bewusst. Nur der Verteidigungsminister der USA – denke mal, dass Ben den meint – ist eine ziemliche Quoddel.
„Wie sie dazu gekommen ist, interessiert mich nicht so sehr, wie die Konsequenzen, die das für uns hat.“
„Kann ich auch nur raten“
Na das war ja wirklich ergiebig.
61.
Jetzt wird sich die Leserin sicher fragen: Warum muss ich diesen Nichts sagenden Dialog ertragen? Nun es geht darum, zu zeigen, wie unterschiedlich Sylvia und ich die Welt wahrnehmen. Schließlich hat sie mir im Schwimmbad zugeraunt, dass Ben interessante Dinge in Erfahrung gebracht habe. Das klang sehr überzeugend und ich muss zugeben, dass sogar ich ein wenig neugierig war, zu erfahren, was Ben so alles weiß. Natürlich hat mich meine Eifersucht davor bewahrt, allzu wissbegierig zu sein. Zu sehr schreckte mich das Bild eines Geheimnisse ausplaudernden 1. Offiziers auf Sylvias Bettkante ab. Jetzt komm ich mir vor, wie ein Idiot und frage mich ob Sylvia wirklich so smart ist, wie ich immer denke. Denn, dass der ganze Quatsch hier abgezogen wird, damit irgendein Idiot oder Idiotenhaufen besser da steht als der Rest, war für mich immer so klar wie Kloßbrühe. Jeder, der also überrascht ist, dass die Militärs ihre Finger im Spiel haben, ist für mich ein Trottel. Sylvia zum Beispiel. Es ist zum Kotzen. Was soll ich nur machen? Einschlafen. Zum Beispiel. Ich träume von einer friedlichen Welt, in der die Panzer rosa angemalt sind und Blumen verschießen. Als eine ältere Dame von Geranien getroffen zu Boden sinkt und jemand verzweifelt versucht sie wieder zu beleben wache ich auf. Die Panzerbesatzung hätte vielleicht Tulpen nehmen sollen? Geht es mir noch durch den Kopf. Danach bin ich erst mal wach. Mir gehen eine Reihe Fragen durch den Kopf, die ich bald beantwortet haben möchte.
62.
Smerg steht neben mir. Bevor er was sagen kann beginne ich meine Fragestunde:
„Was macht der Antrieb? Wieder alles im Lack?“
„Naja, kann man so nicht sagen. Das Diagnoseprogramm ist zwar durch und es gab auch eine Selbstreparatur, doch laufen tut die Kiste immer noch nicht. Mittlerweile sind fast alle mit dem Ding beschäftigt. Alle, das heißt vor allem Svende und die Deutsche. Ich habe mich zurückgezogen und überwache die Messung an unseren Spiegeleiern.“
Smerg lächelt ein bisschen säuerlich. Die Rolle scheint ihm nicht ganz zu behagen.
„Aha. Vertraust du den beiden?“
„Nun sie kennen sich ebenso gut mit der Kiste aus wie ich. Vielleicht sogar etwas besser. Ich habe mich ja am Ende aus der Konstruktion zurückgezogen.“
„Und die Messung?“
„Läuft und läuft. Sylvia kommt anscheinend ein bisschen weiter, aber das kann sie dir ja selbst erzählen.“
„Und die Guten?“
„Hab Viladings Passwort geknackt. War nicht so leicht. Sylvia hat mir dabei geholfen. Die hat wirklich was drauf. Jetzt muss ich mir nur noch das ganze Zeug durchlesen. Bin ich nämlich bisher nicht zu gekommen.“
„Äh, wissen die anderen also der Captain oder die Deutsche was davon?“
„Nein, habe mir Viladings Daten auf meinen Rechner dechiffriert und zu dem hat hier niemand einen Zugang.“
„Meinst du?“
„Nö, nicht wirklich, aber es wird schon ein bisschen Mühe kosten, rauszubekommen, was ich so treibe.“
„Was dagegen, wenn ich dir helfe?
63.
Viladings Aufzeichnungen machen es uns nicht leicht. Zum Teil sind es wissenschaftliche Betrachtungen mit allerlei Formelkram; zum Teil sind es Tagebuchähnliche Einträge. Manchmal mischte der Inder auch beides. Smerg und ich haben es schwer unsere Zusammenarbeit zu optimieren. Von den Formeln versteh ich nichts und für das autobiographische Vermächtnis hat Smerg eigentlich keine Zeit. Trotzdem gelingt es uns, langsam dem Geschwafel Herr zu werden. Im Groben geht es erst mal darum, dass Viladings versucht hat, einen eigenständigen Weg zur „Großen Formel“ wie er sie nennt, zu schlagen. Smerg muss manchmal herzahaft aufgrunzen, um dann wieder anerkennend pfeifend in sich zusammenzusacken.
„Der hatte schon was drauf!“ ist sein zusammengefasster Kommentar zu den physikalischen Erörterungen.
Ich habe es da anscheinend weniger einfach. Zunächst bereitet mir die etwas blumige Sprache ziemliche Schwierigkeiten, dann geht mir sein ständiges Genöhle über mich auf den Sack. Viladings hätte mach am liebsten von Bord geschmissen und stattdessen noch einen anderen Wissenschaftler mit an Bord genommen. Ich war ihm ein Dorn im Auge. Oder, wie er sich ausdrückt eine „Geissel mit dem Verstand einer Amöbe und den Fähigkeiten eines toten Wurms“. Zumindest der letzte Vergleich versöhnt mich so sehr, dass ich mich etwas besser auf den Inhalt seiner Ergüsse konzentrieren kann. Versuche, das was ich verstanden habe mal zusammenzufassen:
Seit er zu der Mission gestoßen ist hatte er vor allem ein Ziel, seinen usbekischen Freund, der Mathematiker und nebenbei seit gut zehn Jahren Schachweltmeister ist mit ins Boot zu holen. Laut Viladings Beschreibungen ein absolutes Obergenie mit mehr als drei Gehirnen oder so. Die Deutsche hat es aber immer wieder verstanden, den Schachguru zu verhindern. Stattdessen wurde ich dazu geholt. Offiziell haben das vor allem politische Kräfte vorangetrieben, doch Viladings wusste es besser. Die Deutsche wars. An dieser Stelle muss ich zugeben, dass ich mich geschmeichelt fühle und ich nebenbei auch ein bisschen froh bin, dass mich Tausendschönchen nicht angelogen hat. Der Inder beschreibt übrigens recht ausführlich, wie er an die Information gekommen ist und wie Miss Hirn ihren Willen durchgesetzt hat. Einige der Kommissionsmitglieder, die über die Mission zu entscheiden hatten, waren wohl nicht ganz so astrein, wie sie gerne sein wollten. Es war ein leichtes, sie um die Finger zu wickeln, wenn man den entsprechenden Arsch, die entsprechenden Titten und das Hirn dazu hatte. Tausendschönchen hat alles im Überfluss und noch ein bisschen mehr. Der Inder hatte zwar eher Ähnlichkeit mit einer Kröte, doch er verstand es, sich einigen entscheidenden Kommissionsmitgliedern anzunähern und ihnen die Informationen zu entlocken. Geholfen hat ihm dabei seine ausgesprochen gute Kenntnis der verfügbaren Drogen. So wurde er zu einem der Gegenspieler des deutschen Hirnwunders.
64.
Smerg stößt auf den ersten wirklich spannenden Eintrag in den Notizen.
„Es ist schon erstaunlich. Ich habe den Inder zwar für eine recht große Nummer gehalten, aber das er das hier hinbekommt, hätte ich nie gedacht. Denke mal, dass er weit über seine eigenen Fähigkeiten gearbeitet haben muss, um das hin zu bekommen!“
„Was?“
„Naja er hat die verschiedenen Theorien, die es zum Holographischen Universum gibt mit einander verbunden und daraus eine eigene in sich konsistente Idee entwickelt.“
„Häh?“
„Tu nicht so doof. Du weißt doch sicher, was Sylvia hier macht?“
„Zeichen entziffern oder so was?“
„Ja sie versucht einen Code zu dechiffrieren. Die Idee dahinter ist, dass eine Art der Selbstorganisation in der Physik geben muss, wenn sich die Phänomene einfach beschreiben lassen sollen. Es ist ungefähr so, als wenn du ein elektrisches Gerät anschaltest. Für dich selbst reicht es aus, den Schalter zu betätigen. Dahinter ist jedoch eine ganze Reihe von Schaltungen und Schaltkreisen, die vorbestimmte Aufgaben erfüllen, bis dein Gerät eingeschaltet ist.“
„Und Sylvia ist damit beschäftigt, die Schaltungen und Schaltkreise zu entziffern, damit Tausendschönchen, der Schwede oder du sie in die Weltformel reinbasteln können?“
„Ja, das trifft es so ungefähr, wobei alles noch komplizierter ist.“
„Und?“
„Viladings beschreibt bisher einen recht eleganten Weg, die Muster, die Sylvia sucht, mit den Theorien des Holographischen Universums zu verbinden,“
„Kann dir zwar nicht folgen, aber wenn das so wichtig ist, gib mir doch bitte mal das Datum, an dem Viladings das herausgefunden hat.“
65.
Es war gut drei Tage vor seinem Tod. Wir hatten die Spiegeleiersterne noch nicht erreicht und alle waren mehr oder weniger mit sich selbst beschäftigt. So auch Viladings, der sein Tagebuch voll schwafelte. Ich finde recht schnell den Eintrag, in dem er seine Physiktheoretischen Glanztaten kommentiert:
„Ich bin soweit. Mein Geist schwebt über mir, hat sich in all seiner Macht von meinem Körper gelöst und beherrscht mein Sein ohne Unterlass. Meine Seele schreit um Einhalt. Bin ich noch Mensch? Was, wenn ich Recht behalte? Werde ich Gott? Will ich Gott werden?“
Ich lese das dem großen Dänen laut vor. Er schaut gebannt, würde mir am liebsten mein Laptop aus der Hand reißen. Ich widerstehe der Versuchen, es ihm zu geben. Habe noch nie gerne vorgelesen. Stattdessen mache ich weiter:
„Jetzt verstehe ich, was Smerg und die verfluchte Deutsche antreibt. Es ist die Gier nach Macht. Es ist die Gier nach Erkenntnis. Nach Allwissen. Auch ich spüre sie. Jetzt, wo ich der Lösung so nah bin. Alles fügt sich ineinander. Alles ergibt auf einmal Sinn. Es ist, als ob ein Film rückwärts läuft. Was eben noch zusammenhanglos zerstreut war wird eins. Kein Baustein, der nicht seinen Ort, seine Zeit hätte. Kein Atom, kein noch so kleines Elementarteilchen, dass nicht seinen Platz findet und einnimmt. Zeit, Raum, Masse. Es fehlt nur noch ein winziger Bruchteil und alles ist so einfach wie der Satz des Pythagoras. Doch was werde ich mit diesem Wissen anfangen? Was, wenn ich der Macht nicht gewachsen bin? Wem wird es nutzen? Wem schaden?“ … und so weiter. Ich hab die Schnauze voll und reiche Smerg das Laptop.
„Hier! Mach du weiter, mir verdörrt die Kehle.“
Und als ob ich nichts anderes gewöhnt sei offne ich Smergs Kühlschrank und entkrone zwei Tuborg. Die mit dem durstigen Mann drauf. Smerg nimmt die Flasche geistesabwesend in seine Pranken und leert sie während seine Augen über den Bildschirm wandern.
„Schaut so aus, als ob unser armer Inder ein bisschen überfordert war mit seiner Erkenntnis.“
„Findest du eigentlich irgendwas über diese Pflanze? Ich meine das Naguma. Diese Droge?“
66.
Smerg antwortet nicht. Stattdessen zischen seine Finger über die Tastatur. Mit einem Nicken gibt er mir zu verstehen, dass ein Tuborg zu wenig für die Suche ist. Ich reiche ihm die nächste Flasche. Er ploppt den Kronkorken mit dem Daumen der linken Hand ab und nimmt einen kurzen Schluck. Die Flasche ist nur noch halb voll und ich erwische mich dabei, wie ich den Dänen ein bisschen um seine Fähigkeiten beneide. Es ist durchaus etwas Kindliches in meiner Bewunderung. So wie man einen älteren Freund anhimmelt, der besonders gut Fußball spielt oder Nietzsche gelesen hat. So eben. Smerg bekommt davon zum Glück nichts mit. Nach gut fünf Minuten hat er´s:
„Hier! Das Zeug nennt er anscheinend nicht Naguma, sondern Rawisha Gun. Er hat es regelmäßig genommen. Allerdings nicht, wenn er in Gesellschaft war, sondern nur in seinen Räumen. Er erwähnt das Zeug so, als ob er eine Studie an sich selbst durchführt. Also mit Angaben über Zeit, Dosis und Wirkung. Es sind diese Zahlen hier!“
Smerg zeigt mir eine Dreiergruppe Zahlen: 12.x..xxxx, 19:00, 14, 5.
„Datum und Uhrzeit sind ja klar, aber was ist Dosis und was Wirkung?“
„Ganz einfach, die Dosis hat er in Milligramm angegeben. Was er genau gewogen hat, kann ich nicht sagen, aber denke mal, dass es ein Teil des Blattes gewesen sein muss.“
„Hab´s vergessen. Müsste aber in den Veröffentlichungen drin stehen. Außerdem kann ich das Zeug sicher untersuchen.“
„Also die dritte Zahl ist die Dosis. Die Werte sind so krumm und ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand bei einer Wirkskala weiter geht als bis 10 oder 12.”
„Klingt nicht doof. Was steht da an seinem Todestag?“
Smerg blickt wieder auf den Bildschirm. Ich erst auf seine Bierflasche, dann auf meine. Beide sind leer und ich greife mir neue.
„Der Inder wurde zum anscheinend recht schweigsam. Hier sind nur Fragmente!“
Wieder muss ich mir den Bildschirm anschauen: „ Zu viel Macht! …. Ein Fehler und …. Brauche einen Vertrauten…. Wer? … Die Amerikaner dürfen das nicht erfahren…. Wie kann ich die Mission verhindern? … Werde mich an Smerg wenden… Der Journalist ist zu doof….“
Arschloch! Doch bei dem Namen Smerg schau ich meinen Freund kurz schief an. Der hat anscheinend damit gerechnet:
„Ragadins war nie bei mir gewesen. Um ehrlich zu sein. Er hatte gar keine Zeit.“
Bei seinen letzten Worten zeigt der Däne auf ein Datum und eine Uhrzeit. Es war nur wenige Minuten vor Viladings Tod. Um genau zu sein: 17.
67.
17 Minuten! Das ist weiß Gott nicht viel Zeit. Aber auch nicht unendlich wenig.
„Steht da was zu dem Niguma?“
„Nix! Rein gar nichts. Kurz vor seinem Tod, also sagen wir mal eine Stunde davor – hat der Inder zwar einige Dateien angelegt, doch es ist nichts mehr gespeichert. Er hat sich anscheinend richtig Mühe gegeben, sie wieder verschwinden zu lassen.“
Ich schaue Smerg fragend an.
„Naja, ich kann zwar erkennen, dass Dateien angelegt wurden. Doch sie sind nicht mehr da. Vielleicht kann ich da noch was finden, aber ich bin in so was auch nur ein Amateur. Kennst du nicht einen Computerfreak? Ich meine als Journalist kommt man doch gut rum.“
„Naja, geht so. Was den Computerspezi angeht, da fällt mir nichts ein. Es gab da zwar eine Kollegin, die mal was über eine Firma gemacht hat, die defekte Festplatten repariert haben. Aber die bräuchten halt die ganze Festplatte und die können wir ja nicht so einfach verschicken.“
„Die Festplatte ist ja auch nicht mechanisch kaputt. Wir könnten doch versuchen eine 1:1 Kopie zu erstellen und diese Daten dann übertragen. Sollte eigentlich kein Problem sein.“
Ich will die Leserin jetzt nicht mit weiteren Details unserer Datenrettungsaktion langweilen. Deswegen in kurz. Smerg schafft es, die Kopie zu erstellen. Ich schaffe es meine alte Liebe anzurufen und sie um die Adresse der Computerfuzzis zu erleichtern. Wir übertragen die Daten und müssen laut Aussage des Schwachsinnigen am anderen Ende der Strippe mindesten drei Tage warten. Vielleicht sogar vier.
Ich nehme mir vor, die Zeit zu nutzen und den Inder mal wieder aus dem Froster zu holen. Vielleicht ist mir bei der Obduktion was entgangen. Doch bevor ich mich um die Toten kümmer, sollte ich nach den Lebenden schauen: Ben.
68.
Bens Gesichtsausdruck ist so entspannt wie das eines Kiffers, der weiß, dass ihm sein Gras nie ausgehen wird. Er schläft und rettet in seinen Träumen sicher grad die Welt oder so was. Ich kann´s ihm nicht verübeln. Wozu auch. Ich hab ja die Scheiße gebaut. Seine Werte sind in Ordnung. Alles so wie es sein sollte bei einem zu groß geratenen Cyborg. Ich kann als damit beginnen, ihn aus dem Tank zu entlassen. Mir ist nicht ganz wohl dabei, das mit zwei Tuborg im Blut anzugehen und ich entscheide, noch ein drittes drauf zu gießen, um die ganze Aktion nach einem ausgiebigen Schlaf durchzuführen. Auf den Weg in meine Kabine kommt mir Sylvia entgegen. Sie bleibt stehen.
„Wie geht es Ben?“
„Morgen früh werde ich ihn aus dem Tank holen.“
„Morgen? Ich dachte das hättest du heute vor!“
„Ja ich auch, aber jetzt hab ich zwei Bier intus und bin schon recht lange wach. Ben schläft und bis er von selbst aufwacht, dauert es sicher noch…“
Sylvia hebt an, mich mit einer Reihe vorwurfsvoller Fragen zu bombardieren. Zumindest sieht alles danach aus. Doch sie lässt es. Vielleicht ahnt sie, dass es keinen Sinn ergibt, mir das Leben schwer zu machen. Stattdessen:
„Brauchst du morgen Hilfe?“
„Ja! Gerne. Maria und Smerg sollten auch dabei sein.“
„wissen die von ihrem Glück?“
„Nein, aber ich wollt ihnen gleich Bescheid geben,“ lüge ich.
Sylvia setzt an weiterzugehen, dann dreht sie sich mir noch mal zu.
„Hast du eigentlich Ben mal gefragt, was er so herausbekommen hat. Ich meine, ihr hab recht viel miteinander erzählt, seit seinem Unfall.“
„Ja, ich hab ihn gefragt. War sehr interessant. Vor allem, weil er ja selbst ein Militärkopp ist.“
„Ist er nicht! Aber gut! Ich frage mich, ob wir dir trauen können?“
„Wir? Wer ist wir?“
Warum macht mich Sylvia nur so schnell sauer? Ist auch eine wichtige Frage.
„Na Ben, ich und die anderen, die hier nicht gleich am Rad drehen, bloß weil sie glauben eine Weltformel zu erfinden.“
„Ben, du und die Anderen. Wer zählt zu den anderen? Captain Miller? Ludmilla? Maria? Den Schweden oder die Deutsche? Smerg?“
Langsam werde ich richtig wütend.
„Um genau zu sagen ich weiß es nicht.“
Sylvia sieht jetzt tatsächlich ein wenig verzweifelt aus und ich schmelze dahin, wie all die anderen Vergleiche, die nach „schmelze dahin“ folgen.
„Das heißt, du traust eigentlich nur Ben und gehst davon aus, dass alle anderen an Bord vielleicht auf eurer Seite sind. Vielleicht aber auch nicht. Und dann ist die Frage wofür seid ihr?“
69.
Sylvia kommt nicht dazu, mir irgendwas zu erklären. Tausendschönchen kommt um die Ecke geschwebt.
„Hallo, wieder auf den Beinen?“
Das ist an mich gerichtet. Ich habe sie seit meinem Zusammenbruch in der Dusche nicht mehr gesehen und suche jetzt nach irgend einer Regung in ihrem Gesicht.
„Ja, es geht mir erstaunlich gut. Was machen die Spiegeleier?“
„Wir kommen weiter. Allerdings würde es noch schneller gehen, wenn Sylvia den Code schneller dechiffrieren könnte.“
Sie blickt Sylvia absichtlich vorwurfsvoll an. Was geht denn hier ab? Wird die Deutsche langsam normal? Wohl eher nicht. Stattdessen zieht sie ein Laienschauspiel ab. Sylvia scheint das nicht zu merken und reagiert betont kühl.
„Über Nacht laufen mehrere Algorhythmen automatisch. Ich kann zur Zeit nichts großartiges vorantreiben. Außerdem brauche ich wie jeder hier mal Ruhe.“
„Ich habe doch nur gescherzt. Bin sicher, dass Sie Ihre Arbeit optimal machen. Wie geht es Ben?“
Das ist an mich gewandt.
„Er schläft. Morgen werde ich ihn aus den Tank holen und dann sehen wir weiter.“
„Ist da nicht was schief gelaufen mit seiner Rekonstruktion? Maria sagte so was.“
„Ja. Er ist ein bisschen weiter gewachsen, als ich geplant hatte. Habe allerdings noch kein Protokoll angefertigt. Das werde ich dann morgen erledigen, wenn er draußen ist.“
„Findest du das nicht ein bisschen spät? Egal. Gibt es wenigstens Aufzeichnungen über die Operation?“
„Ja, allerdings nicht in Reinform.“
„Sorry, wollt dich jetzt nicht abfragen. Sehen wir uns nachher?“
Sylvia schaltet sich ein:
„Äh, braucht ihr mich noch?“
Sie schaut mich kurz an. Einen vorwurfsvollen Blick kann ich nicht erkennen. Möchte zu gern wissen, was sie jetzt denkt. Wahrscheinlcih nichts Gutes. Sie drückt sich unnötig nah an mir vorbei und berührt mich sogar recht sanft, was zur Folge hat, dass ich etwas verwirrt bin, als ich mich meiner Bettgenossin zuwende:
„Wollte mich eigentlich gleich hinlegen. Morgen wird recht anstrengend.“
„Ich kann ja mal vorbeischaun,“ sagt Superfrau und zwinkert mir zu.
70.
Zehn Minuten später liege ich auf meinem Bett, den Rechner auf dem Schoß. Aus der Anlage dröhnt alter Bluesrock. Ich schau mir meine Aufzeichnungen an, versuche einen klaren Gedanken zu fassen. Das fällt mir aber schwer, denn Miss Body and Brain hat sich angekündigt und ich bin wieder mal gefangen in einem Netz aus Ausweglosigkeiten. Nach wie vor kann ich nicht klar beurteilen, ob sie Gutes oder Böses im Schilde führt. Das einzige, was klar ist, sind ihre Attribute im Bereich Körper und Gehirn. Dazu kommen ein paar Defizite im Umgang mit Menschen. Sieht man mal von dem ab, was sie mit mir anstellt. Was sie machen wird, wenn sie die dämliche Formel wirklich hin bekommt, ist mir ein Rätsel. Vielleicht dreht sie dann vollends ab. Schließlich scheint sie Macht zu genießen. Ein recht unangenehmer Zug, den ich schon immer gehasst habe. Egal bei welchem Menschen. Andrerseits kann ich auch verstehen, dass sie die Machtgier braucht, um ihre Ziele durchzusetzen. Außerdem kann es ja auch sein, dass sie wirklich die einzige ist, die mit einer Weltformel umgehen kann. Oder sie einfach nur richtig hin bekommt. Schließlich ist der erste Versuch ja glänzend in die Hose gegangen und was passiert, wenn unsere Wissenschaftler hier draußen Mist bauen, möchte ich nicht wissen. vielleicht sollten sie auch besser die Finger von dem ganzen Kram hier lassen.
Spätestens an dieser Stelle wird der Leserin klar sein, dass es mir nicht gelingt einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Ich schalte deswegen das Denken aus und konzentriere mich aufs Warten. Dem Gitarristen geht es da anders. Er leidet seine tonale Gonorrhoe aus.
71.
Ich schau aus dem Fenster. Das Wetter ist traumhaft. Sonne, blauer Himmel und alles was einem sonst noch so einfällt. Ich bin in den Alpen. Es ist Winter. In der Nacht zuvor hat es geschneit. Ich habe mich mit Freunden in einem französischen Skiort eingezeckt und schon drei wunderbare Skitage hinter mir. Heute ist der Tag, an dem wir die Nordroute des Hausberges aufsteigen und wieder abfahren wollen. Der Aufstieg ist nicht so leicht, es gäbe da ein paar knifflige Stellen, so unser Tourenleittier, das uns schon zum Frühstück mit Details der Route auf den Sack geht. Als wir dann endlich schwitzend den Berg hoch kriechen, hält er endlich die Fresse. Gibt nix zu sagen, außer ein paar Klugscheißereien an einer Spitzkehre. Insgesamt haben wir es aber gut getroffen. Der Typ kennt die Berge hier wie seine Westentasche. Am Gipfel angekommen gibt es dann eine Menge Scherzereien und Geplapper. Wie as halt so ist, wenn man was tolles geschafft hat. Oder es zumindest glaubt. Bei der Abfahrt entscheide ich mich, als letzter zu fahren. Ich mag es, wenn niemand in meinem Rücken fährt. Außerdem schau ich den anderen gerne beim Skifahren zu. Der pulvrige Neuschnee ist mindestens Knietief. Ich schwebe. Doch irgendwas stimmt nicht, Der Grund ist weicher, als er sein sollte. Dazu kommt ein seltsames Geräusch. Schneebatzen überholen mich seitlich. Das alles passiert gleichzeitig. Doch es dauert gute eine oder zwei Sekunden, bis ich kapiere, was los ist: Ich bin in ein Scheiß Schneebrett geraten. Ich blicke mich nicht um. Versuch nur noch, seitlich aus dem Hang raus zu fahren. Zu spät kapiere ich, dass das in der Richtung, die ich eingeschlagen habe nicht geht. Eine Felswand versperrt den Weg. Bevor ich dagegen knalle, wende ich. Auf alles gefasst. Dann ergreifen mich die Schneenassen und ich rudere wie ein Bekloppter, um oben zu bleiben. Doch der Schnee wirbelt mich durcheinander. Ein tolles Gefühl, wenn das Ergebnis nicht so blöd wäre. Kurze Zeit später geht gar nichts mehr. Ich kann nicht mal den kleinen Finger bewegen. Ich stecke fest. Wie lange überlebt man in einer Lawine. Zehn Minuten? Zwanzig? Mir fällt es nicht ein. Die Zeit vergeht und nichts passiert. Sollten mich nicht meine Skikumpane retten. Wissen die wo ich bin? Verdammte Scheiße. Es ist stockdunkel und mir wird langsam übel vor Panik. Dann rüttelt eine Hand an meine Schulter. Es ist soweit. Ich habe abgedankt. Eine wnnderschöne Frau lächelt mich an. Ok, denke ich, so schlecht ist das gar nicht mit dem Sterben. Da können wir gerne weiter machen. Vielleicht haben die bekloppten Selbstmordattentäter ja recht mit ihren tausend Jungfrauen. Mir würde fürs erste mal diese eine hier reichen. Die Hand rüttelt wieder an meiner Schulter. Was soll der Scheiß? Erst jetzt erkenne ich das Gesicht. Es ist Tausendschönchen.
72.
Wie schön! Ich bin kein Lawinenopfer. Stattdessen sitzt die Supermaus aus meinem Traum an meiner Bettkante. Schlaftrunken setze ich an, mich in die rettenden Arme zu schmiegen. Doch statt des erhofften weichen Empfangs bleibt die Deutsche leider kühl. Sie hat anderes als Schmusen im Sinn
„Wäre ganz gut, wenn du kommen würdest. Jetzt sofort.“
Ihre Stimme schafft es, mir anstehende Fragen zu verkneifen. Stattdessen bin ich dreißig Sekunden später mit ihr in den Fluren des Schiffes unterwegs. Das ist er Vorteil, wenn man angekleidet einschläft. Wir sind auf dem Weg zu Ludmillas Reich. Die Russin ist erkrankt. Woran ist ein Rätsel, das ich lösen soll. Maria ist schon bei ihr. Sie hat auch das Diagnoseset parat. Ludmilla liegt auf ihrem Bett. Ihr Gesicht ist verschwitzt. Sie scheint trotzdem zu frieren. Ich lege ihr den Armring des Diagnosesets an, ziehe die Bettdecke zurück, Sie ist nackt, was die Sache etwas erleichtert. Ihr Körper ist durchtrainiert wie der einer Siebenkämpferin. Jetzt wirkt er jedoch ausgemergelt. Ihre Haut hat eine Farbe zwischen gelb und grün. Vielleicht ist es auch bräunlich oder grau. Ich schaue mir das Elend etwas näher an. Tatsächlich hat sie kleine braune Pusteln, die etwa Millimetergroß ihren Körper bedecken. Ich blicke auf die Anzeige des Diagnosegeräts. Sie scheint eine Infektion zu haben. Die Anzeige kann sich nicht entscheiden. Eine Infektion!? Woher? schießt es mir durch den Kopf. Woher bitte schön has sie hier eine Infektion bekommen. Das ganze Raumschiff ist so Keimfrei wie der Südpol. Wir wurden tausendfach gecheckt und mit Antibiotika voll gepumpt. Niemand hier ist in der Lage, auch nur einen einzigen gefährlichen Keim zu produzieren. Oder doch? Mir wird auf jeden Fall ein bisschen schummrig.
„Wir müssen Ludmillas Bude unter Quarantäne stellen. Wer von Euch hat sie bislang berührt?“
„Ich!“ Maria.
Die Deutsche schüttelt den Kopf.
„Wir saßen zusammen, hatten eine Besprechung. Maria, Ludmilla und ich, als ihr übel wurde. Dann ist sie aufgestanden und in ihr Zimmer gegangen. Berührt habe ich sie nicht.“
„Ihr müsst trotzdem erst Mal vom Rest der Mannschaft getrennt bleiben. Ebenso wie ich. Kann sein, dass Ludmilla eine Infektion hat. Das müssen wir so lange durchzeihen, bis wir wissen, um was es hier geht.“
„Haste ne Idee, wo?“ Maria
„Wie lange wird das dauern?“ Tausendschönchen
„Gute Frage. Keine Ahnung.“ Ich.
73.
Tatsächlich weiß ich nicht, was wir tun sollen. So ein Fall ist nicht vorgesehen. Ich stiere jetzt alle paar Sekunden auf die Anzeige, die Ludmillas Entzündungswerte durchgibt. Als wenn das was helfen würde. Maria und die Deutsche sitzen vor den Bildschirmen, die im ganzen Schiff also auch in Ludmillas Räumlichkeiten ihr Unwesen treiben. Maria sucht nach einer möglichen Erklärung für Ludmillas Teintänderung; das Superhirn rechnet weiter an der Superformel. Sie ist von der Situation vollkommen unbeeindruckt. Ich habe die Russin soweit stabilisiert, dass ihr selbst die Pest nichts anhaben kann. Endlich entscheidet sich die Diagnosekiste: Ludmilla hat einen allergischen Schock. Worauf und wieso mit diesen Symptomen steht da allerdings nicht. Auf jeden Fall kann ich erst mal Entwarnung geben. Superfrau verpisst sich augenblicklich. Maria bleibt.
„Weisst du, ob Ldumilla auf irgendwas allergisch reagiert?“
„Nein! Sie hätte mit einer Allergie auch nie mitkommen dürfen.“
„Ich weiß. Trotzdem könnte es ja was sein, was nicht so leicht festzustellen ist und von dem nur sie gewusst hat. Du weißt, dass viele sonst was gemacht hätten, um mitzukommen.”
„Kann ich mir trotzdem nicht vorstellen. Erzählt hat sie mir jedenfalls nichts. Können wir das hier rausbekommen?“
„Werden es versuchen,“ antworte ich
Langsam nimmt die Arbeit hier überhand. Inder obduzieren, Ben reparieren und jetzt Ludmilla. Werd Captain Miller mal fragen, ob wir nicht doch ein Lazarettschiff eröffnen sollen.
74.
Captain Miller erwartet mich schon. Nichts, dass ihm nicht entgeht.
„Was ist denn das schon wieder für eine Sauerei? Was hat dieses Russenweib denn angestellt?“ schnauzt er, als ich eintrete.
Ich schau ihn nur dämlich an. Er kapiert.
„Na, guten Abend erst mal. Entschuldigen Sie meine Äußerungen, aber das wird langsam ein bisschen viel. Wie geht es Ihnen?“
Er hat sich wieder im Griff.
„Erstaunlich gut, wenn ich bedenke, dass ich acht Tage flach lag. Aber lassen Sie mich erst mal erzählen, wie es Ihrer Kollegin geht. Sie hat einen allergischen Schock. Woher der kommt, warum sie das hat, kann ich zur Zeit nicht sagen. Vielleicht können Sie mir weiterhelfen. Meine Frage ist: Könnte irgendetwas in den Unterlagen stehen, die uns nicht zugänglich sind. Ich denke zumindest, dass es über jeden von uns ein geheimes Dossier gibt, auf das nur Sie und unsere liebe Chefwissenschafterin zugriff haben.“
Bei dem Begriff Chefwissenschaftlerin verzieht Captain Miller kurz das Gesicht.
„Ihnen ist klar, dass ich diese Frage nicht beantworten kann. Doch wenn ich Ihnen und Captain Ludmilla helfen kann, dann werde ich alles tun, was in meiner Macht steht.“
„Schon gut, wir haben aber nicht allzu viel Zeit für offizielles TamTam. Ihr Zustand ist zwar stabil, doch je kürzer das ist, umso besser.“
Er überlegt kurz, ob er sich aufregen soll. Doch dann besinnt er sich.
„Ihnen ist es wahrscheinlich nicht bewusst, aber ich halte große Stücke auf Sie. Warum weiß ich selber nicht. Wenn ich Ihnen helfen kann, erfahren Sie es in ein paar Minuten. Wenn Sie mit der Russin fertig sind, erwarte ich einen Bericht. Oder besser drei. Viladings, Ben und Captain Ludmilla.“
Ich nicke. Mir geht durch den Kopf, dass Tausendschönchen auch Berichte haben wollte. Frage mich, wann ich den Scheiß erledigen soll. Klar, ich bin gewohnt, meine Protokolle zu führen, doch müssen die ja auch für Laien übersetzt werden und das kostet Zeit und die habe ich nicht.
75.
Einer der Gründe für meinen Zeitmangel schlummert in einem Tank aus Nährlösung. Ich nutze den Moment, um bei Ben vorbei zu schauen. Alles im Lot, soweit man das sagen kann. Hoffentlich klingt Ludmillas allergischer Schock bald ab. Möchte gerne den Rücken frei haben, wenn ich Ben aus seinem Gefängnis rauslasse.
Maria erreicht mich auf der Krankenstation.
„Sieht nicht gut aus. Aber am besten du schaust selbst mal.“
Sie hält mir einen Ausdruck und drei Fotos unter die Nase. Könnten glatt von Ludmillas Haut stammen. Doch ich weiß, dass sie aus einer wissenschaftlichen Veröffentlichung stammen. Der Titel verheißt nichts Gutes: „Hyperallergical reactions on toxic agents – a brief history of case studies“. Es ist ein längerer Artikel, in dem ich mich erst mal zurechtfinden muss. Es werden mehrere allergische Rektionen beschrieben. Der Hautausschlag, der Ludmillas Hautausschlag am ähnlichsten ist, wird durch den Kontakt mit einem recht selten eingesetzten Kühlmittel ausgelöst. Es reichen mir aber ein oder zwei Suchanfragen, um zu erfahren, dass wir auf unserem Schiff ausgerechnet dieses Kühlmittel irgendwo im Bereich der Laserablationskiste einsetzen. Mehr will ich erst mal nicht lesen. Sollte Ludmillas Allergie gegen das Kühlmittel aktenkundig sein, dann wäre es mehr als verwunderlich, dass sie hier mit durfte. Nur wenig später klärt mich Captain Miller per Funk auf.
„Die Russin war kerngesund. Sie hat alle Tests, auch allergologische gut überstanden. Allerdings gab es in ihrer Familie einen Todesfall aufgrund eines allergischen Schocks. Es war ihr Großvater. Ein russischer Raumfahrtexperte. Ist mir ein Rätsel, warum das so klein gekocht wurde. Schließlich ist sie ja mit.“
Maria und ich sind schon wieder bei Ludmilla. Ihr Puls ist nicht allzu stark, ihr Atem geht flach. Flacher, als noch vor ein paar Minuten. Ich gebe ihr eine Injektion und schaue, wie sich das auf ihre Werte auswirkt. Nicht gerade berauschend. Wenn das so weiter geht, ist sie die nächste, die an die Lebenserhaltungskiste gekabelt wird. Mir reicht es langsam. Bedeutet das doch, das Ben fürs Erste weiter in seinem Tank pennt, ich keine Zeit haben werde den Inder vernünftig zu untersuchen und auch vom Rest des Betriebs nichts mit bekomme. Außerdem ist Captain Miller der einzige Astronaut. Denn auf Marias Hilfe kann ich nur zur Not verzichten. Hoffe mal, dass unsere drei verbleibenden Wissenschaftler den Captain unterstützen. Wobei ich nicht weiß wobei.
76.
Während ich all diese Überlegungen in meinem Kopf Ping Pong spielen lasse, halte ich die Anzeigen im Auge und verdrehe meine. Scheiße! Kurze Zeit später ist meine Retterin an die Lebenserhaltungsmaschinerie angeschlossen. Sie ist immer noch ohnmächtig, doch ich kann an den Werten erkennen, dass Ludmilla erst mal aus dem Schneider ist. Nicht, dass das heißt, sie wird wieder gesund. Es bedeutet einfach nur, dass sie so sehr lange am Leben bleibt. Maria ist nur noch ein Schluck Wasser in der Kurve. Ich sage ihr, dass sie sich ausruhen soll. Zurzeit gibt es nichts zu tun. Ich selbst entscheide hier Wache zu halten. Aus irgendeinem Grund traue ich der Kiste nicht so recht. Vielleicht liegt das daran, dass ich keine Idee habe, was ein allergischer Schock bedeutet. Hab da wohl geschlafen, als das durchgenommen wurde. Dem Gedanken, dass etwas anderes als meine medizinischen Kenntnisse faul ist versuche ich nicht zu viel Raum zu geben. Ich setze mich in einen Sessel und falle in einen unruhigen Schlaf.
77.
Dummerweise dauert der nur ein paar Sekunden oder Minuten. Stattdessen starre ich jetzt auf Ludmilla und die verschiedenen Anzeigen, die sie jetzt samt der Schläuche und Kabel umgeben. Es ist still. Sehr still. Es dauert ein bisschen, bis ich kapiere, dass es zu still ist. Ich springe aus meinem Sessel und kontrolliere Ludmillas Puls. Der pumpt ganz leise vor sich hin, aber das bedeutet nichts, denn es ist ja die Lebenserhaltungskiste, die das Blut antreibt. Ich überprüfe die Apparatur. Ludmillas Herzschlag, ihren Atem. Auch hier ist keinerlei Fehler zu finden. Die Russin ist in dem gewollten Koma und ihr Zustand hat sich nicht verschlechtert. Trotzdem ist irgendwas faul. Ich setze mich an die Tastatur des Diagnoserechners. Das Gerät sollte fähig sein, mir einen Lagebericht aus Ludmillas Körper zu geben. Tatsächlich. Auf dem Bildschirm erscheint eine Abbildung, die anzeigt, wo es überall brennt. Toll. Blöd ist nur, dass ihr ganzer Körper betroffen ist. Die Antikörper in ihrem Blut machen sich über sie her. Nur in Schach gehalten von der Lösung, die über die Infusion in sie rein träufelt. Ich schiebe den Monitor weg. Mir fällt nichts ein, was ich machen kann. Warten. Scheiß Idee. Meine Aufmerksamkeit wird wieder von der Stille gepackt. Ich piepe Smerg an. Der Däne ist nüchtern, als er in Ludmillas Räumen erscheint.
„Meinst du sie kommt durch?“ ist das erste was er fragt.
„Keine Ahnung.“
Wir schweigen kurz, dann frage ich ihn nach der Stille.
„Es ist der Antrieb. Jetzt sind auch die Hauptkühlaggregate ausgefallen. Das ist nicht weiter schlimm. Es gibt für alles, oder zumindest fast alles Ersatz.“
Smergs Holperer ist wohl dem vermaledeiten Laserablationsgenerator zu verdanken. Den gibt´s hier nur einmal.
„Die Ersatzkühlaggregate sind deutlich schwächer dimensioniert. Deswegen auch viel leiser. Was mit den Hauptaggregaten ist, versucht Svende herauszufinden. Er ist ein hervorragender Praktiker.“
„Gibt es eigentlich auch noch Ersatzaggregate für die Ersatzaggregate?“
„Ja, aber das sind dann echte Luschen, die nur zur Not und für kurze Zeit eingesetzt werden.“
„Was ist, wenn wir keine Kühlung haben?“
„Dann können wir den Antrieb nicht anschalten, der übrigens immer noch defekt ist. Aber ohne die Kühlung würde uns der Antrieb eh in unsere Elementarteilchen zerlegen. Also: Erst Kühlung reparieren, dann Antrieb.“
Mein großer Freund sagt das so ruhig, als ginge es darum, Startprobleme bei einem Auto zu beheben. Mir fällt es schwer, seine Gelassenheit nachzuahmen. Panik ist allerdings auch nicht mein Metier. Also entschließe ich, die Kühl- und Antriebsprobleme zu ignorieren.
78.
Ludmillas Zustand verschlechtert sich zunehmend. Mittlerweile ist Maria wieder da und wir versuchen alles, was uns einfällt bzw. was wir in den medizinischen Datenbanken finden. So reichhaltig das Angebot ist. Es bleibt nutzlos. Ludmilla wird von ihrem eigenen Immunsystem zerfressen und wir können nur zusehen, wie sie verschwindet. Erst jetzt fällt mir ein zu fragen, wann sie mir dem Kühlmittel in Berührung gekommen ist. Maria kann mir nur en paar Vermutungen servieren:
„Ludmilla war ja bei der Reparatur dabei. Da gab es sicher eine Gelegenheit. Immerhin ist sie immer sehr grob mit der Technik umgegangen. Denke mal, dass das so üblich ist in russischen Raumfahrerkreisen. Sie hat das zumindest mal im Scherz zu mir gesagt.“
„Scherz? Ludmilla ist mir nie wie ein Scherzbold vorgekommen.“
„Doch, doch. Sie hat durchaus Humor. Nur ist sie auch sehr ehrgeizig, da passt Spaß nicht ins Leben.“
Italienische Weisheiten, vorgetragen am Sterbebett einer Russin. Toll das. Mir fällt nichts mehr ein und ich halte die Fresse. Mir fallen kurz die Augen zu. Maria weckt mich wieder.
„Glaube, es ist vorbei.“
Ganze sieben Stunden hat Ludmillas stiller Kampf gedauert. Ob sie was davon mitbekommen hat? Wenn ich den Apparaten glauben schenke, dann ist das ohne ihr Bewusstsein abgelaufen. Zumindest war Ihre Hirnaktivität zu schwach und chaotisch, um den Schluss zuzulassen, sie habe noch mal ihr Leben Revue passieren lassen. Wenn es die Leserin beruhigt: die Diagnosekiste hat keine starken Schmerzen registriert. Deswegen lag Ludmilla so still da. Erstaunlicherweise geht mir ihr Tod nahe. Sie war nicht gerade mein Typ, aber aus irgendeinem Grund war sie mir nicht unsympathisch. Vielleicht habe ich sie sogar gemocht. Maria hockt neben ihr und versucht beherrscht zu wirken. Aber selbst ein Blinder mit Krückstock würde erkennen, dass sie gleich losflennt wie ein Schlosshund. Ich traue mich nicht, meine Hand allzu fest auf ihre Schulter zu legen. Wer weiß, was sie dann mit mir anstellt. Also berühre ich sie leicht. Maria zuckt kurz zusammen, dann legt sie ihre Hand auf meine und drückt sie.
„Danke Doc, ich muss gleich tierisch losheulen und ich möchte nicht, dass du mich so siehst. Oder sonst jemand. Gib mir bitte eine viertel Stunde. Dann kannst du den anderen Bescheid sagen.“
Ich antworte nicht; drücke aber kurz zurück. Dann lösen sich unsere Hände. Denke mal, dass es nicht viel gibt, was mehr Einverständnis ausdrücken kann, als diese kleine Geste. Wir lassen unsere Hände los und ich verpisse mich in meine Bude. Werd Captain Miller also ein bisschen verspätet Meldung geben. Der wird vielleicht im Dreieck springen deswegen. Vielleicht auch nicht. Ist mir egal. Ich greife in meinen Büroflaschencontainer und gieße mir ein Glas Scotch ein. Während ich den Inhalt hin und her schwappen lasse fällt mir ein, dass das falsche Getränk ist. Ich stelle das Glas beiseite und angele mir einen russischen Wodka aus dem Vorrat. Hat Ludmilla eigentlich getrunken? Nicht oft auf jeden Fall. Kann mir sogar vorstellen, dass sie auch in ihrer Heimat mit steifem Rücken da saß und „Njet“ gesagt hat, wenn ihr einer ein Gläschen anbot. Oder auch nicht. Vielleicht hat sie ja gesoffen wie ein russischer Schriftsteller. Wer weiß das schon. Ich mache das Wasserglas bis oben hin voll und kippe es in einem Zug runter. Danach bin ich zehn Minuten am Husten. Passt doch. Auf geht’s zum Rapport.
79.
Natürlich ist der Captain sauer. Geht ja nicht, so schlampig mit dem Tod einer geschätzten Kollegin umzugehen. Sein Gezeter perlt an dem Becher Wodka ab, wie die Stimme eines Kinderchors. Nach ein paar Minuten hat sich Miller gefangen.
„So eine Scheiße. Was soll ich jetzt den Sesselfurzern da oben sagen? Erst der Inder, dann die Russin. Dazu dieser Hornochse von 1. Offizier. Na, mir soll´s egal sein. Die Deutsche hat ja das Kommando. Soll sie sich was ausdenken.“
Er schaut mich unwillkürlich an.
„Sagen Sie mal, sie haben doch was mit der? Oder? Geht mich zwar nix an, was eine deutsche Wissenschaftlerin hier so auf meinem Schiff treibt, aber wer meinen Boss vögelt, möchte ich schon wissen. Also Doc, ist die wirklich so scharf wie sie aussieht?“
Ich glotze nur doof.
„Ich meine, man sagt doch, dass diese Supergirls gar nicht so gut im Bett sind. Sie wissen schon: die Nase hoch den Schritt trocken.“
Ich leg noch ein bisschen Blödheit in meinen Blick.
„Na kommen Sie Doc! Sie sind zwar nicht Adonis, aber ich finde, Sie haben was. Mich haben Sie ja auch um den Finger gewickelt. Nicht dass ich schwul bin, aber ich kann die Weiber verstehen, die sich in sie verknallen.“
Langsam bekomm ich Augenschmerzen. Ob Captain Miller einen im Tee hat, kann ich nicht beurteilen. Bin ja selbst ein bisschen neben der Spur. Ich habe keine Lust, mich mit ihm zu streiten und ihn einfach stehen lassen, halte ich auch nicht für klug. Ich suche also nach einer entspannenden Formulierung oder nach einem Ablenkmanöver:
„Vielleicht ein anderes Mal. Ich hoffe Sie sind mir nicht böse. Aber ich hab selbst eine Frage: Was ist mit dem Schiff?“
Es klappt.
„Das ist die nächste Scheiße, in der wir sitzen. Der Kahn läuft nicht. Und das beschissene ist, ich kann nicht mal eingreifen. Wissen Sie ich versteh ne Menge von der Raumfahrt und von den Raumschiffen. Steuerung, Antrieb, was weiß ich! Alles kein Problem für mich. Nur bei dieser Kiste hier bin ich hinten dran. Das macht mich ein bisschen nervös.“
Ich greife den Faden auf:
„Nervös? Wieso? Die Erfinder des Antriebs sind doch mit an Bord. Was könnte es Besseres geben?“
„Einen guten Bordingenieur! Die Kopfgesteuerten fummeln mir zu viel und zu lange rum. Ich hab sie ja gesehen. Der Schwede scheint zwar ein bisschen praktisch veranlagt zu sein. Doch das hilft alles nicht, wenn ihm diese deutsche Flittchen – äh sorry- im Nacken sitzt. Der will ihr dann zeigen, was ne Harke ist und dann dauert es wieder ein paar Minuten länger, bis er einen Knopf drückt.“
Während ich mich wieder einmal über Captain Millers aufblitzende Intelligenz wundere, leuchtet eine kleine rote Lampe an der Decke auf. Das ist der Alarm. Also der Alarm für alles von Leck bis Untergang und was sonst noch so passieren kann am Rande des Raumes. Captain Miller stürzt an mir vorbei zur Brücke. Ich folge ihm. Zum ersten mal neugierig.
80.
Alle sind versammelt. Svende, Smerg, Sylvia, Tausenschönchen und die ausgeheulte Maria. Die beiden Skandinavier über den Pulten gebeugt. Die Deutsche hat gleich drei Tastaturen in Beschlag. Augenscheinlich mit was Wichtigem beschäftigt. Ist wohl was Ernstes. Smerg informiert mich:
„Ein Meteoritensturm fliegt auf uns zu. Wenn alles so bleibt wie es ist, treffen die Brocken in etwa zwei Stunden auf unser Schiff.“
Captain Miller steht neben der Deutschen, versucht zu erfassen, was sie so treibt. Das Superhirn wendet sich augenblicklich an ihn:
„Miller, gibt es irgendeine Möglichkeit dem auszuweichen?“
Der Captain hat anscheinend mit der Frage gerechnet.
„Sieht nicht gut aus. Der Hauptantrieb ist defekt. Wir können natürlich versuchen etwas mit den Steuerdüsen anzufangen. Die sollten funktionieren. Dann müsste ich allerdings auf manuelle Steuerung umschalten. Sie wissen, was das bedeutet?“
„Ja. Alle bisherigen Messungen werden nutzlos und wir müssen hier noch ein paar Tage länger bleiben.“
„Können Sie das verantworten?“
„Darum geht es jetzt nicht. Die Frage ist, ob wir das wollen.“
„Und?“ das bin ich, Warum ich mich einschalte, ist mir bis heute ein Rätsel.
Sie schaut mich kurz und viel sagend an.
„Im Grunde ist es ein Optimierungsproblem. Wir – Smerg und ich – sind recht sicher, dass wir in kurzer Zeit…“
„In 76 Minuten!“ schaltet sich der erstaunlich nüchterne Schwede ein.
„Also, es kann gut sein, dass ein Ausweichmanöver von Hand unnötig ist. Wenn der normale Antrieb läuft, wird das Schiff den Meteoriten ausweichen und wir können die bisherigen Messwerte verwenden. Sollte uns ein Fehler unterlaufen sein, dann könnte es zu spät sein, um mit den Steuerdüsen ein Ausweichmanöver zu fliegen. Aber selbst, wenn wir, das heißt ich, uns für ein manuelles Manöver entscheiden, dann kann es schief gehen. Habe ich das so richtig zusammengefasst, Captain Miller?“
„Exakt! Und ich kann nur sagen: Lassen Sie mich das Baby aus dem Scheiß rausholen. Ihr Messungen können Sie dann ja nachholen!“
„Man erkennt sie sind ein Praktiker. Erst handeln, dann fragen. Tatsächlich ist es nicht so einfach. Die Daten, die wir bisher haben machen gut 80 % unserer Zieldaten aus. Wenn wir sie unbrauchbar machen, dann kann es, ich korrigiere: dann wird es so sein, dass wir hier noch mindestens drei Monate bleiben müssen, um ähnlich signifikante Messungen durchzuführen…“
Ich verstehe nur Bahnhof. Allerdings fällt mir auf, dass die Deutsche erstaunlich menschlich agiert. Welches holografische Wesen würde sich auf eine Diskussion mit einem grenzdebilen Astronauten einlassen?
„… was bedeuten würde, dass wir die ganze Mission gefährden.“
„Ihre Mission ist mir Scheißegal!“ Captain Miller
„Das ist mir bewusst.“
81.
… aber wie Sie wissen, habe ich das Kommando über das Schiff.“
Miss Superhirn kommt langsam in Fahrt und ich lehne mich beruhigt zurück. Der Anfall von normalem Verhalten ist anscheinend vorbei. Captain Miller ist nicht so feinfühlig. Oder er hat sich einfach nicht täuschen lassen.
„Ich weiß, dass Sie hier draußen eine Riesensauerei vorhaben! Sie und Ihre ganze Bande von Hirnvergrößerten Kretins. Und wenn Sie der Papst oder der Präsident oder was auch immer wären, ich werde jetzt die Automatik ausschalten und uns in ein lauschiges Eckchen schieben. Wir haben sechs Jahre für die Vorbereitung der Expedition gebraucht, da kommt es auf ein paar Monate nicht an.“
Sagts und setzt sich an sein Pult. Seine Finger fliegen nur so über die Tastatur, doch bevor er eine augenscheinlich entscheidende Taste drücken kann ist die Deutsche bei ihm. Sie legt ihre Hand auf seine und spricht sanft:
„Miller, hören Sie mir noch einen Augenblick zu. Ich kann Sie nicht abhalten. Doch Sie machen eine Riesendummheit. Soweit ich das berechnet habe, reichen die Steuerdüsen bei weitem nicht aus, um unser Schiff aus der Gefahrenzone rauszubekommen. Es ist so als wollte Sie ein Kreuzschiff mit einem Paddel lenken. Sie können sich das gerne anschauen!“
Doch Miller ist nicht in der Stimmung für technische Erörterungen. Er wirft die Hand der Deutschen ab und haut auf seine Taste. Zumindest versucht er es. Tausendschönchen setzt ihn nämlich mit einem gezielten Schlag gegen den Kehlkopf außer Gefecht. Der Arme weiß gar nicht was passiert ist. Er hält sich den Hals und schnappt nach Luft. Seine Gesichtsfarbe verändert sich allmählich. Bevor er so richtig schön blau ist, bin ich bei ihm. Die anderen starren auf die Deutsche.
„Ich hasse Gewalt. Doch es war die einzige Möglichkeit, um das einzig vernünftige zu tun. Hier geht es nicht darum, die Wünsche eines erstklassigen Astronauten zu erfüllen. Wir müssen das Ziel der Mission im Auge behalten und gleichzeitig dafür sorgen, dass wir sicher wieder zurückkommen…“
Was legt die denn jetzt für eine Platte auf? Getreu meiner Angewohnheit stell ich die Ohren auf Durchzug. Soll sie doch schwafeln. Miller kommt langsam wieder zu sich. Allerdings wird er die nächste Zeit kein Ohr mehr befeuchten. Wenn ich Pech habe, bekomm ich das wieder hin und er kann wieder reden wie bisher. Vermutlich wird er ein interessantes Timbre in seiner Stimme haben. Wer weiß.
„…. Es ist unmöglich, dem Meteoritensturm auszuweichen. Zumindest mit den Mitteln, die wir zur Zeit haben. Wir müssen also den Haupttriebwerksstrang wieder in Gang bekommen und wenn es nur für einen kurzen Moment ist.“
Während die blonde Versuchung das sagt, kloppen ihre Finger auf Millers Tastatur rum. Wahrscheinlich macht sie seine Befehle rückgängig oder repariert das Raumschiff. Ich helfe den immer noch vollkommen verwirrten Captain Miller auf die Beine. So wie es jetzt ausschaut, haben wir nur noch Maria als funktionsfähigen Astronauten an Bord.
82.
Während ich Miller in die medizinische Abteilung führe, frage ich mich, warum ich nicht einschreite. Mir fällt keine vernünftige Antwort ein. Oder doch: Ich kann die Situation nicht beurteilen. Hat mein seit heute Mundfaul gewordener Captain recht oder die Supermaus? Mein Gefühl sagt mir, dass Miller auf irgendeine Weise menschlich im Recht ist. Oder moralisch. Oder ethisch? Keine Ahnung, was der richtige Begriff ist. War er im Begriff eine Dummheit zu unternehmen? Vielleicht, aber seine Entscheidung den Antrieb auf Manuell umzustellen hätte ja nicht bedeutet, dass der Hauptantrieb nicht repariert werden kann. Es hätte nur zwecklos sein können, weil uns der Meteoritenschwarm trotzdem erwischt hätte. Ansonsten wären wir hier halt ein paar Monate länger rumgeschippert. Captain Miller wollte auf Nummer sicher gehen. Tausendschönchen hingegen versucht das Optimum rauszuholen. Sie ist bereit dafür ein größeres Risiko einzugehen. Oder sie weiß es einfach besser, wie sie behauptet. Trotzdem bin ich der Ansicht, dass Miller ruhig auf Manuell hätte umschalten sollen. Das führt zu der Frage zurück, warum ich nicht versucht habe, das durchzusetzen. Scheiß was auf die Deutsche und ihre Ziele. Außerdem würden drei Monate mehr hier draußen bedeuten, dass wir mehr Zeit haben in die Kiste zu springen. Nicht dass das sein muss, aber blöd finde ich den Gedanken nicht. Ich schiebe diese nutzlosen Gedanken beiseite und schau mir Millers Kehlkopf an.
83.
Miller hat Glück gehabt. Sein Kehlkopf ist nicht ernsthaft verletzt. Vielleicht wird er sein Leben lang heiser sein, aber das sollte ja nicht so schlimm sein. Wichtig ist mir erst mal, dass er die Fresse hält. Habe keine Lust auf seine Entschuldigungen darüber, dass er sich so einfach hat ausboten lassen. Ihm ist es wahrscheinlich eher recht, sich nicht rechtfertigen zu können. Wer will sich schon von einer deutschen Blondine verkloppen lassen? Mir selbst ist es unangenehm, dass ich ihm nicht geholfen habe. Also kühle ich schweigend seinen Hals und frag ihn nur, ob er wieder auf die Brücke will. Er nickt säuerlich. Wir latschen also zurück. Dort angekommen erwarten uns weder vorwurfsvolle, noch verächtliche noch sonst wie deutbare Blicke. Alle sind voll beschäftigt. Die Deutsche schaut kurz auf. Sieht Miller mit verbundenem Hals und geht stracks auf ihn zu:
„Tut mir leid, aber ich habe keine andere Lösung gesehen. Sie haben sicher in bestem Wissen gehandelt. Doch Sie können die Situation bei weitem nicht so gut beurteilen, wie ich. Verstehen sie mich nicht falsch. Sie sind ein hervorragender Astronaut. Doch Sie konnten leider nicht wissen, was ich weiß. Bitte schauen Sie das an.“
Sie übergibt ihm einen kleinen Tablettrechner auf dem anscheinend ihre Berechnungen zu sehen sind. Miller nimmt das Teil vollkommen verdattert und setzt sich in seinen Kommandantensessel. Er ist immer noch ziemlich geschockt und Tausendschönchens Vorstandsgeschwafel hat da sicher noch einen draufgesetzt. Auf jeden Fall wischt er jetzt brav auf dem Tablettbildschirm hin und her und versucht dabei Haltung zu bewahren. Ich glaube er kapiert gar nichts. Aber darum geht es wahrscheinlich auch nicht. Wichtig ist, dass er sein Gesicht bewahren kann, dass er nicht als Depp dasteht und da hilft so ein Wischtablett zu dem man wissende Miene machen kann.
Die Deutsche beugt sich wieder über ihre Bildschirme. Captain Miller ist eine Episode aus vergangenen Zeiten. Ich schiebe mich an Sylvia ran.
„Sorry, aber ich bin zur Zeit etwas überlastet. Meinst du es war richtig, sie gewähren zu lassen?“ raune ich ihr zu.
„Ich weiß es auch nicht. Das ist das Problem. Sie kann uns alles erzählen und wir wissen nicht, ob sie spinnt, oder ob es die Wahrheit ist. In diesem Fall: Ich hab mit Smerg drüber gesprochen. Sie hat in allem Recht. Ein Ausweichmanöver mit den Steuerdüsen würde nichts bringen. Also lass uns hoffen, dass Smerg sich nicht täuscht. Übrigens ist der Schwede der gleichen Ansicht.“
Dann ist ja alles gut. Mir fällt bei dem Gedanken Ben ein. Sollten wir demnächst pulverisiert werden, so bekommt er das gar nicht mit. Kann mir vorstellen, dass er das gar nicht will. Also nicke ich dem Rest kurz zu und gehe wieder zur Krankenstation.
84.
Ben pennt. Ich schau mir seine Werte an. Alles Paletti. Dann drehe ich an der Infusion mit dem Schlafmittel und pumpe etwas Hallowach in seinen wundervollen Körper. Ist alles nicht grad schonend. Aber das ist mir egal, wenn wir alle gleich pulverisiert werden, ist das auch egal. Es dauert gut zehn Minuten, bis Ben die Augen öffnet.
„Doc! Was gibts? Kann ich raus?
„Warum nicht?“
Während ich ihn aus seinem Tank befreie, was weitere zehn Minuten verschlingt – von den veranschlagten 76 Minuten sind mittlerweile gut fünfzig vergangen – erzähle ich ihm so grob was passiert ist.
„Das blonde Luder verkloppt den Captain? Haha! Is ja klasse! Wie geht´s ihm denn?“
„Ist schon wieder auf der Brücke und macht Schön Wetter.“
„Naja! Danke, dass ich wieder raus darf.“
Sagts und reckt seinen jetzt mächtigen Körper. Ich kann nicht umhin, ihn anzustarren. Muskeln, Sehnen, Adern. Scheiße er hat keine Unterhose an! Also glotze ich unwillkürlich auf sein Gemächt. Oh weh! Ich schreib jetzt mal nicht weiter über dieses Körperteil. Will weder Ben verletzen, noch der angeregten Phantasie der Leserin allzu viel Stoff liefern. Ich reiche Ben ein Badetuch und raune er solle nicht stolpern. Er schaut mich blöd an, dann nach unten. Weiß wohl nicht, was er denken soll und bindet sich endlich das Tuch um.
„Da hinten sind Klamotten. Hab mir was von Smerg geben lassen. Hoffe mal, dass die passen.“
Ben schnappt sich das Zeug und steht zwei Minuten später vor mir.
„Woll´n wir mal hochgehn?“
Eine Minute später sind wir auf der Brücke.
85.
Sylvia muss schwer schlucken. Doch dann begrüßt sie Ben betont herzlich. Die Umarmung allerdings misslingt ein bisschen. Sie kann seinen gigantischen Brustkorb nicht umfassen und so sieht es etwas hilflos aus. Die anderen nehmen kaum Notiz von Ben, was nicht wundert, haben sie doch grade mal drei Minuten Zeit, den Hauptantrieb in Gang zu bekommen. Syliva weißt uns ein:
„Diese Bekloppten“ hier weisen ihre Augen in Richtung Svende und Tausendschönchen,„haben die Software für den Antrieb neu programmiert. Anscheinend gab es da einen Fehler, der das erneute Starten der Hauptraketen verhindert.“
Ben versucht seinen Platz neben Miller einzunehmen, doch der Sessel ist ihm zu eng und so hockt er sich auf die Lehne. Es reicht ein kurzer Blickkontakt mit Miller und er fährt mit den Fingern über verschieden Knöpfe, Regler und Schalter. Ohne jedoch auch nur einen umzulegen oder zu drehen. Ist wohl alles schon erledigt und er orientiert sich nur. Jetzt nimmt die Deutsche wieder Notiz von ihm.
„Ok, wir sind fertig. Miller es wäre angebracht, wenn Se jetzt die Triebwerke starten und das Schiff aus dem Gefahrenbereich rausholen.. Ben, ich hoffe Sie sind eine Hilfe.“
Seinen Zustand kommentiert sie nicht weiter.
Miller und Ben werden jetzt aktiv, Miller schaltet seine wahnwitzige Knopfarie. Ben bellt ihm verschieden Zahlenwerte und Bestätigungen zu. Dann drückt Miller auf den großen Knopf. Wir anderen starren gebannt auf die beiden. Mehr zu sehen gibt es hier ja auch nicht. Das Blöde ist, dass sich trotz des tollen Einsatzes nichts verändert. Ich schaue auf die Batterie Monitore, die auf den Anschwirrenden Meteoritenschwarm gerichtet sind. Irgendwann sollten die ja mal erscheinen. Smerg bemerkt das.
„Etwa 30 Sekunden vor dem Aufprall können sie von den Teleskopen erfasst werden. Dann sind sie aber immer noch ein gutes Stück weit weg.“
„xx Kilometer.“ Schaltet sich Tausendschönchen ein. Gleichzeitig blickt sie zu Ben und Miller rüber.
„Haben Sie den Hauptantrieb gestartet?“
„Ja!“ antwortet Ben „Nur es passiert nichts!“
„Hab ich auch gemerkt!“
Die Deutsche ist tatsächlich ein bisschen aus der Fassung. Vor ihren Augen rasen die Programmzeilen entlang. Der Schwede neben ihr macht es ihr gleich. Sylvia steht neben mir. Zum ersten mal seit der Meteoritenwarnung wird mir klar, dass es gleich vorbei sein wird. Ich rücke ein bisschen an Sylvia ran, schnappe mir ihre Hand und drücke sie. Sylvia drückt zurück und lässt nicht los.
86.
Smerg legt seine Pranke auf meine Schulter.
„Da seht!“
Er zeigt auf den großen Bildschirm, der das Teleskopbild wiedergibt. Wir sehen einen Haufen heller Punkte, die schnell größer werden. Smerg haut auf eine Taste und das Spiel beginnt von neuem.
„Muss die Vergrößerung immer wieder runterstellen. Die Dinger sind verdammt schnell.“
Versteh nicht, wie man sich jetzt mit optischen Problemen beschäftigen kann. Trotzdem bin ich froh, dass ich die gefrorenen Gesteinsbrocken, die uns demnächst pulverisieren werden gestochen scharf zu sehen. Bleiben also noch was weniger als dreißig Sekunden. Auf einer Anzeige sehe ich die exakte Sekundenzahl runter zählen:
„27; 26; ….“
87.
“…25 Sekunden; 24 S e k u n d e n; 23 S e k u n d e n; 22 S e k u n d e n; 21 S e k u n d e n; 20 S e k u n d e n ; u s w.”
Was gemerkt? Die Zeit vergeht immer langsamer. Exponentiell!!! Das ist der Hammer. Die Scheiß Meteoriten werden hier nie ankommen, wenn das so weitergeht. Die werden draußen vor dem Schiff rumkriechen und wir lachen uns hier ins Fäustchen. Smerg hat sie jetzt gestochen scharf im Fokus, scannt ihre Oberfläche ab. Die Deutsche und der Schwede kontrollieren immer noch ihre Programmierung. Ich würd am liebsten hingehen und sie von ihrer Tastatur reißen. Keine Ahnung, warum sie nicht gemerkt haben, dass wir keine Eile haben.
88.
„Hei ihr zwei! Fällt euch nichts auf?“
rufe ich immer noch besoffen von dem Gedanken, dass wir gerettet sind. Der Schwede schaut mich giftig an:
„Nicht jeder hier an Bord ist so blöd wie Sie! Wir haben es hier mitnichten mit einem stabilen Zustand zu tun. Es ist ein Raumloch in das wir geraten sind und wir wissen nicht wie groß es ist. Also halten Sie die Klappe und lassen uns arbeiten.“
Das saß. Reumütig schaue ich mich nach Verbündeten um. Doch alle sind beschäftigt und Sylvia schaut auch ratlos drein. Ich wende mich an Smerg, der weiter die Meteoriten im Auge behält.
„Hei, sach mal, was geht denn hier ab? Was ist denn ein Raumloch?“
Smerg hebt kurz die Augenbrauen, dann fängt er an zu dozieren, ohne sein Teleskop aus den Augen zu lassen:
„Ein Raumloch ist die etwas lockere Bezeichnung für eine Erscheinung, die es nicht geben dürfte wenn unsere Physik stimmt. Es bezeichnet einen Raum, der frei jeder Energie ist, also auch frei jeder Materie. Gibt´s eigentlich nur als Denkmodell. Scheint aber auch physikalisch möglich zu sein, wenn man mal alles Bekannte nicht so ernst nimmt und einfach schaut, was da draußen passiert. Jetzt zum Beispiel. Die Meteoriten rasen mit einem Drittel der Lichtgeschwindigkeit auf uns zu. Keine Ahnung, warum die so schnell sind, aber nehmen wir´s mal hin. Auf jeden Fall sind sie momentan in einer anderen Zeit als wir. Das Raumloch sollte dafür verantwortlich sein. So Svendes Theorie. Je größer das Loch ist, um so sicherer sind wir.“
„Wir groß ist denn so ein Loch?“
„Kann leider nicht bestimmt werden!“
„Ich meine, mal so Größenordnungsmäßig. Wie ein Sockenloch? Wie ein Golfloch? Ein Meter? Tausend Kilometer?“
„Kann ich dir nicht sagen! Das Wesentliche ist, dass es begrenzt ist. Sind wir aus seinem Einflussbereich raus, ist´s aus.“
„Haha“
89.
Auch wenn Smerg so was wie mein Freund ist: Diese Wissenschaftler kotzen mich manchmal ziemlich an. Kann der mir nicht irgendeine Hausnummer nennen? Auch wenn die falsch ist. Ist doch Scheißegal. Ich kann´s eh nicht kontrollieren. Oder glaubt der, dass ich draußen mit einem Zollstock rum springe und das Raumloch suche. Bleib ich doch lieber hier und schau mir die tollen Bilder der Meteoriten an, die jetzt recht gemächlich auf uns zu kriechen.
„Äh, wie kann das eigentlich sein, dass unsere Zeitanzeige langsamer läuft?“ Ich muss aufpassen, sonst schmeißen die mich hier wirklich noch raus, weil ich mich benehme wie der Klugscheißer aus der Nachbarklasse.
Doch diesmal habe ich wirklich was entdeckt.
„Was meinst du?“ Tausendschönchen.
„Na, die Zeitanzeige, die anzeigt, wie lange es noch dauert, bis wir Feindberührung haben.“ Ich bin immer noch ein bisschen auf Dope, seit ich weiß, dass ich länger leben werde, als vorgesehen.
„Hmm, das könnte eines der fehlenden Glieder sein. Miller, äh besser Ben! Wieviele Uhren haben wir hier an Bord?“
„Hab sie nie gezählt.“ Wastl Ben ist ganz schön frech und die Deutsche ist nicht Mundlahm:
„Dann zählen Sie sie! Ich brauch eine Projektion, die mir anzeigt, wo die Uhren im Schiff sind und welche Uhrzeit sie anzeigen“
Ben macht ein bisschen rum. Ich kann nicht genau erkennen, was er macht, aber das ist kein Wunder bei einem modernen Raumschiff. Schade eigentlich. Hätte gerne mitreden wollen. Was ist nur los mit mir? Ich denke wie ein vollspakko Clown. Sollte mich mal nach einer Narrenkappe umschauen, damit die anderen wissen wo sie dran sind.
Bens Uhrenprojektion schiebt die tollen Meteoritenbilder beiseite und ich bin versucht, ihn davon abzuhalten. Weitergucken ruft irgendwas in mir. Doch ich kann mich beherrschen. Noch bin ich Herr im Haus und nicht der Narr, der mir all diese merkwürdigen und sehr lustigen Gedanken in den Kopf treibt. Bitte die Leserin für alle weiteren nicht zu meiner Persönlichkeit passenden Anmerkungen eine gute Ausrede zu finden und mir zu verzeihen. Es wird schon wieder gut. Nichts dauert ewig. Ach so Bens Uhrenprojektion zeigt übrigens 178 Uhren, die alle eine andere Uhrzeit anzeigen. Zumindest, wenn man das auf die siebte Stelle hinter dem Komma ernst nimmt.
90.
Nun wird sicher die geometriekundige Leserin auf die Idee kommen, dass wir, bzw. die noch verbliebenen Eierköppe – aus den Koordinaten der Uhren und ihren Zeitanzeigen berechnen können, wo das vermaledeite Raumloch steckt. Schlau gedacht nur dummerweise falsch, so klärt mich Smerg auf:
„Raumlöcher haben keine geometrische Ausdehnung, wie wir uns das vorstellen. Sie sind ungefähr so regelmäßig wie der Geschlechtsverkehr eines arbeitslosen Computernerds mit Pickeln.“
„Ok! Und was heißt das?“
„Dass wir überhaupt keine Ahnung haben, wann wir aus dem Einflussbereich des Raumlochs rauskommen. Übrigens kann das Ding auch ein paar Tausend Lichtjahre entfernt sein“
DAS muss man erst mal schlucken. Ich lass es lieber und schau mir dafür das Superweib an der Tastatur an. Mir ist nie aufgefallen, dass sie mit ihren Titten auf der Tastatur rumklimpert. Macht sie auch nicht, aber allein der Gedanke daran lässt mich scharf werden. Sorry, liebe Leserin, aber was soll ich machen? Irgendwas in mir spinnt ganz gehörig und ich bekomme es nicht unter Kontrolle. Nicht, dass ich es für abwegig halte, dass in den Phantasien eines mittel alten Mannes Blondinen die Tastaturen ihrer Computer mit den Brüsten bedienen. Das halte ich für eine vollkommen normale, wenn auch dümmliche Phantasie. Weswegen ich mich entschuldige ist, dass ich diesen Blödsinn hier mitteile. Als ob ich Hobbyautor in einem Schmuddelheftchen wäre. Das Tittentippwunder holt mich aus meinen Gedanken:
„Kannst du mal aufhören mir auf meinen Vorbau zu starren? Ich hab hier zu tun.“
Erwischt! Verdammte Scheiße. Maria starrt mich an, als ob ich ihr in den Schritt gegriffen hätte. Wahrscheinlich habe ich zumindest in die Richtung geglotzt. Ob die einen großen Bären hat? Angewidert dreht sie sich auf dem Drehstuhl weg von mir. Sylvia ist die einzige, die zu mir hält. Ich darf ungehindert in ihren Ausschnitt schauen, während sie sich mir zuwendet.
„Hei, stimmt was nicht mit dir?“
„Mit mir?“ ich drehe mich um, und schaue wer noch da ist. Komisch! Niemand.
„Maria, kannst du mir mal helfen? Unser lieber Schreiberling ist glaub ich ein bisschen daneben!“
„Bin nicht daneben!“ ich.
„Schon gut!“
Seit wann können Bären und Ausschnitte reden? Andererseits, warum sollten die nichts zu sagen haben? Wobei ich nicht weiß, was sie zu sagen haben. Warum hilft mir den keiner in diesem Paradies aus Fleisch und Blut?
91.
Das Paradies aus Fleisch und Blut entpuppt sich als eine außergewöhnlich blumige Ausgeburt meiner Phantasie. Maria verpasst mir einen saftigen Tritt in die Eier, der mich mehrere Minuten nach Luft schnappend auf dem Boden liegen lässt. Während sie der verwirrten Sylvia erklärt, dass die gleiche Maßnahmen bei ihren bisherigen Verehrern Wunder gewirkt habe, komme ich langsam zu Verstand. Maria sollte eine Praxis für Raumkrankheit eröffnen. Smerg schaut leicht amüsiert zu uns rüber:
„Besser?“
„Keine Ahnung, war vorher auch ganz lustig und da hatte ich noch keine blauen Eier.“
Die Ganze Aktion hat vielleicht fünf Minuten verschlungen. Die Achse der Hochintelligenz zwischen Indien und Deutschland ist inzwischen nicht weitergekommen: Zum ersten Mal sehe ich Tausendschönchen verwirrt. Ob sie überhaupt das Gefühl kennt nicht weiterzukommen? Mir ist das erst Mal egal. Ich hebe mich hoch, nicke Maria ein zerknirschtes „Danke“ zu und setze mich auf einen der unbesetzten Sessel, um mir das Panorama anzuschauen.
92.
Dabei fällt mein Blick auf die beiden Sterne, wegen denen wir hier sind. Der Raum zwischen ihnen erscheint mir erstaunlich hell. Es sieht so aus, als ob sich eine Fläche zwischen den Sternen ausbreiten wolle. Frage mich, ob ich halluziniere oder ob die anderen es nicht mitbekommen haben, dass sich da was tut. Smerg beantwortet ungefragt meine Frage:
„Es spannt sich eine Ebene zwischen den beiden Sternen auf. Wir können nicht messen, was da passiert oder besser: Was wir messen ergibt keinen Sinn. Außer, dass es der Form nach eine Ebene ist.“
Es ist das erste Mal, dass ich den Begriff der Ebene im Zusammenhang mit den beiden Sternen höre. Während also draußen die Meteoriten darauf warten, auf uns niederzustürzen mache ich mir Gedanken über Die Ebene.
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Viel Denken bringt anscheinend nicht immer was. Mir fällt außer einem Strich nichts ein. Im Grunde genommen ist das auch keine Wunder. Der Antrieb ist kaputt. Im Kühlfach sind zwei Ex-Expeditionsteilnehmer, deren Todesursachen noch nicht ganz geklärt sind. Wir – das heißt eigentlich ich – haben nach einem Unfall aus dem 1. Offizier Ben einen Cyborg geschaffen, der sich vollkommen normal benimmt obwohl er aussieht wie eine Gestalt aus einem Marvel-Comic. Dazu kommt, dass ich in die Dolmetscherin und Kryptologin Sylvia verknallt bin und mit einer deutschen Superwissenschaftlerin und Traumfrau ohne Namen ins Bett steige. Abgesehen davon ist unser Captain paranoid oder zumindest teilparanoid. Ok, jetzt ist die Leserin aufgerufen mal über die Ebene nachzudenken. Kann mir nicht vorstellen, dass sie unter ähnlichen Bedingungen wesentlich mehr zustande bekommt, als einen Strich.
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Und weitergekommen? Naja, wenn nicht ist auch nicht schlimm. Geht mir ja auch so, wenn doch, dann sollte die Leserin sich sofort hinsetzen und ein Philosophiebuch schreiben. Hat nämlich ne Menge zu bedeuten so eine Ebene. Keine Hügel zum Beispiel. Aber mal genug des Geturtels. Sechs Tage nach dem ich meinen unvollendeten Denkprozess über die Ebene begonnen hab, schleichen die Meteoriten immer noch in Zeitlupe auf das Raumschiff zu. Der Antrieb funktioniert noch immer nicht und wir haben uns mehr oder weniger dran gewöhnt. Bens Erscheinung rückte gestern kurz ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Alle wollten wissen, wie´s denn so geht und ich musste Ben zur Beruhigung seiner Bewunderer noch mal gründlich untersuchen. Nein ihm fehlt nix. Alles optimal. Sylvia und Maria haben sich einen naiven Spaß daraus gemacht, ihm passende Kleidung zu entwerfen und schneidern zu lassen. Das geht dank der 3-D-Fräse.Jetzt läuft Ben rum, wie ein zu groß geratener Römer aus nem Asterix-Comic. Tausenschönchen und der Schwede haben sich ständig in der Wolle wegen irgendeiner Programmierzeile. Zum Glück hat Svende wieder das Saufen angefangen, bzw. nicht all zu lange aufgegeben. Jetzt sackt er einfach vornüber und schnarcht, während die Deutsche auf ihn einzackert. Da sie ja nicht blöd ist, dauert das aber nicht allzu lang, Dann schiebt sie seinen verwachsenen Körper beiseite und geht seine Programmierung Schritt für Schritt durch – hab sie mal dabei beobachtet – und ändert mal hier was, mal da was, um am Ende alles wieder rückgängig zu machen. So kommen wir hier nie weg und mir ist das mittlerweile auch ganz recht. Smerg übrigens auch. Er hat ein Auge auf Maria geworfen oder umgekehrt. Dummerweise scheinen beide nicht allzu erfahren in Leibesdingen zu sein und so bleiben sachdienliche Leibesübungen noch in weiter Ferne. Ich habe wieder die Arbeit an dem Inder und der Russin aufgenommen, was heißt, dass ich den Inder zum zweiten Mal obduziert habe und die Russin das erste Mal. Bei beiden Obduktionen bin ich so gründlich vorgegangen, dass ich sicher schwachsinnig geworden wäre, wenn ich nicht ab und zu an des Schweden Schnaps genascht hätte. Die Nächte waren dann trunken und einsam. Zurzeit brauche ich keine Körperkontakt. Hoffe mal, dass sich das wieder ändert.
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Ich sitze vor meinem Rechner. Auf dem Bildschirm leuchtet mir der Körper des Inders entgegen. In all seinen Schattierungen und Details. Ich schaue mir sein Rückgrat zum gefühlt zwanzigsten Mal Wirbel für Wirbel durch. Anhand der Spannungsmuster, die sich durch die Gewalteinwirkung in den Wirbeln eingraviert haben versuche ich festzustellen, in welcher Abfolge, die Wirbel gebrochen sind. Es ist ein recht neues Messverfahren und ich habe noch keine Ahnung, wie man es richtig einsetzt. Doch ich habe eine Vorstellung davon und es ist die einzige Möglichkeit den Tod des Inders zu rekonstruieren. Es ist heute schon der dritte Tag, an dem ich mich mit Viladings Wirbeln beschäftige und mir fallen ständig die Augen zu. Analysieren ist ein Scheiß Job. Anders als Häuser bauen oder ein Musikstück zu komponieren. Obwohl, auch da gibt es Phasen der Ergebnislosigkeit Wie viele Romane gibt es über das Schreiben? Und was ist mit all den Musikern, denen auf einmal nichts mehr einfällt? Oder denen nie was eingefallen ist? Rechnet man dann noch die Bauarbeiter hinzu, die auf den Mörtel warten oder auf eine Baugenehmigung oder den Parkschein für den Bulli, dann kommen eine Menge Leute zusammen, die in einer ähnlichen Situation stecken, wie ich. der ratlos auf. Nichts ist motivierender, als das Elend anderer und so blick ich wieder auf meine Scheißbilder. DA! Ich stiere auf den Monitor, kann aber nichts erkennen. Doch ich gebe nicht auf. Nach gut einer Stunde dummen Stierens schaue wieder weg und erneut hin. Da ist es wieder. Ich wiederhole den Vorgang, Hinschauen, wegschauen. Gut zwanzig Minuten später hab ich den Ort der Erscheinung lokalisiert. Ich vergrößere das Bild des zerstörten 3. Wirbels. Tatsächlich! Da ist ein Schatten, der keinen feinen Bruch darstellt, sondern etwas anderes, künstliches. Zu glatt. Ich drehe die dreidimensionale Abbildung so, dass ich sehen kann, welche Form der Schatten hat: Es ist eine ebene Fläche, die zwei Bruchstücke des Wirbels trennt. Wie ein Schnitt. Ich schiebe das Bild hin und her, las es rotieren und rollen. Nach und nach erkenne ich immer mehr glatte Bruchflächen. Ich lasse den Computer die Bruchstücke so zusammensetzen, dass der ursprüngliche Wirbel wieder entsteht. Es scheint, als ob eine glatte Fläche den Wirbel durchzieht. Was ist da los?
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Nach drei weiteren Stunden gebe ich ratlos auf. In der Zentrale schaue ich, ob Smerg vielleicht Zeit hat oder Maria oder Sylvia. Nur Maria sagt zu, in einiger Zeit mitzukommen. Seit einigen Tagen wird die Stimmung immer gedrückter. Kein Wunder. Niemand macht in irgendeiner Richtung einen Fortschritt. Ich setze mich wieder mal auf einen der Sessel und schaue mir die Bilder auf den Monitoren an. Die Ebene zwischen den beiden Sternen wird immer dichter. Was vor einigen Wochen kaum wahrnehmbar war, ist jetzt zu einem dichten Schleier geworden Ist schon toll, was da draußen alles so los ist. Langsam versteh ich meinen Trupp Geistesgrößen. Es muss toll sein, das da draußen zu verstehen. Blöd, dass ich mich nie richtig dafür interessieren konnte. Klar ich habe über diese Dinge geschrieben und berichte ja auch über unsere Expedition. Doch im Grunde ist mir das alles Scheiß egal. Zumindest weit gehend. Vielleicht liegt es daran, dass mir Wissen zu vergänglich ist. Weiß man heute, dass die Erde eine Scheibe ist, so ist sie morgen eine Kugel und bald darauf ein Ei usw.. Immer gibt es die gleichen Glaubenskriege zwischen den einen, die das wissen und den anderen, die dies wissen. Ich habe auch nie verstanden, das Ganze als Spiel zu nehmen und die Meinungsverschiedenheiten in der Wissenschaft als eine Art Sport zu betrachten. Für mich ist das Hin und Her einfach eine gigantische Zeitverschwendung. Es ist klar, dass man mit so einer Einstellung nicht gerade viele Geistesreichtümer einsammelt. Somit zehre ich bei meinen Reportagen und Berichten von meinem Schulwissen und ein paar Kursen während des Studiums. Das erschreckende ist: Es reicht.
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Die Italienerin reißt mich aus meinen Gedanken. Kann verstehen, dass Smerg Gefallen an ihr findet. Abgesehen von ihren gekonnten Eierangriffen erscheint sie mir die Normalste an Bord zu sein. Selbst Syvia kann in der Beziehung nicht Schritt halten. Maria ist ein echter Kumpel. So der Typ Frau, den sich alle Schüchternheimer wünschen. Oder alle, die nicht sofort einen Ständer bekommen, wenn sie ein Covergril auf dem Playboy sehen oder z.B. Tausendschönchen in natura. Wobei die Deutsche jedes Cover hätte platzen lassen. Frag mich also – während ich Maria anglotze – was Supergirl an mir findet. Eine Frage, die so bescheuert ist, dass ich sie ans Guinessbuch der Rekorde schicken sollte.
„Hei! Wach mal auf! Was gibt’s?“
Es fällt mir schwer aus dem Buchstaben F des Guinessbuchs wieder auf zu tauchen. War grad dabei, eine ansprechende Einleitung für die Kategorie „Bescheuertste Frage“ zu verfassen:
>>Wollen Sie Bauern- oder Landwirtbrötchen? Mit Kürbiskernen oder ohne? Welche Körnerbrötchen? Sesam? Dreikorn? Zweikorn oder Doppelkorn? Die guten nach Bäckerart? Wir leben in einer Zeit der Fragen: Was willst du? Was hast du gemacht? – Eine Frage bescheuerter als die andere. Nicht ausgesprochen aus ehrlichem Interesse an den Wünschen, Bedürfnissen oder gar dem Leben des anderen, sondern hingeworfen, um den Gefragten in die Defensive zu drängen. Wer gefragt wird, muss antworten, das verlangt der Anstand und wem keine Antwort einfällt, der muss sich was einfallen lassen und wer sich was einfallen lässt, ist schutzlos, denn er muss sich was einfallen lassen, kann also nicht an seiner Verteidigung arbeiten oder gar selbst angreifen. Zum Beispiel Fragen. Es ist klar: Wer fragt ist im Vorteil!….gngngn<<
Das ist der Moment in dem Maria mich fragt. Das einzig Gute ist: Ich bin vorbereitet, und habe eine Antwort:
„Du musst mir helfen. Ich stecke fest mit meiner Untersuchung an Viladings und da ist was, was ich dir mal zeigen möchte, um deine Meinung zu hören.“
So hab ich’s natürlich nicht gesagt, aber den Inhalt gibt’s schon wieder.
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Maria macht genau das Gleiche wie ich; nur ein bisschen anders und vielleicht auch etwas geschickter. Sie dreht die Bilder der Bruchstelle in Viladings Halswirbelsäule hin und her, vergrößert, ändert die Farben. Dann entdeckt sie einen kleinen Button, der mir entgangen ist. Dahinter steckt eine Funktion, die es ihr anscheinend ermöglicht, eine Zeitreihe der Brüche zu erstellen. Ich schaue ihr fasziniert dabei zu. Es ärgert mich kein bisschen, dass ich die Funktion übersehen hab. Button-Suchen ist nicht meine Kernkompetenz. Glaub ich zumindest. Maria werkelt recht virtuos durch die Menupunkte. Als ob sie tagein, tagaus nichts anderes macht. Wen wundert´s. Sie ist sicher eine der besten Pilotinnen weltweit. Da muss sie einfach was drauf haben. Nach einer guten halben Stunde schauen wir uns auf den großen Monitoren einen Film an, der darstellt, wie die Wirbelsäule des Inders zerstört wurde.
und jetzt?
Lieber Autor,
Tausendschönchen entwickelt eine Wunderwaffe – kann sich nur um ein Waffeleisen handeln. Nur weiter so, an deutschen Waffeln soll die Welt genesen – und ihr Griechen bekommt nichts ab – freue mich schon auf den Einbau des neuesten Waffel-Rezeptes in Deine Story.
Eckhard